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Fidelma bemerkte, wie sich die Augen des Abtes plötzlich ein wenig weiteten. Sie sah, wie er Ballgel einen raschen Blick zuwarf und dann die Augen senkte.

»Warum hat die Erwähnung eines Liebhabers eine besondere Bedeutung für dich?«, fragte sie ihn.

Äbtissin Ballgel antwortete an seiner Stelle.

»Schwester Cessair hatte eine … eine Beziehung«, sagte sie leise.

»Widerwärtig war das!«, grunzte Abt Heribert.

»Eine seltsame Wortwahl.« Fidelmas Augen verengten sich. »Widerwärtig in welcher Weise?«

»Abt Heribert ist fest vom Zölibat überzeugt«, erklärte Ballgel.

»Aber das Prinzip des Zölibats ist doch in der Kirche keineswegs allgemein anerkannt«, warf Fidelma ein. »Es gibt viele gemischte Häuser, in denen Mönche und Nonnen zusammenleben und ihre Kinder zum Dienst im Weinberg Gottes heranziehen. Was ist daran widerwärtig?«

»Paulus von Tarsus hat sich unmissverständlich für das Zölibat ausgesprochen, und viele andere Kirchenväter haben es ihm gleichgetan. Auch unter uns sind heute einige, die darauf beharren, dass wir nur durch das Zölibat die Kraft besitzen, den Glauben zu verkündigen.«

»Ich bin nicht hier, um theologische Debatten zu führen, Heribert. Willst du mir sagen, dass Cessair in einen Ordensbruder aus deiner Abtei verliebt war?«

»Gott möge ihm vergeben.« Heribert senkte fromm das Haupt.

»Nur ihm?« Schwang da Sarkasmus in Fidelmas Stimme mit? »Sicherlich ist doch Gottes Vergebung allgemein? Wer war dieser Mönch?«

»Bruder Cano«, antwortete Ballgel. »Er ist ein junger Mönch, der erst vor einigen Wochen aus Éireann angekommen ist. Es hat den Anschein, dass er und Schwester Cessair einander kennenlernten und sich sofort zueinander hingezogen fühlten.«

»Und diese Beziehung wurde nicht gern gesehen?«

»Mir war die Sache gleichgültig«, erwiderte Ballgel hastig. »Unsere Kultur verbietet derlei Beziehungen nicht, wie du ja schon erwähnt hast. Auch Kildare, wo wir studiert haben, war ein gemischtes Haus.«

»Abt Heribert dagegen stand der Sache nicht gleichgültig gegenüber.« Fidelma blickte den hochaufgeschossenen fränkischen Prälaten an.

»Natürlich war mir das nicht gleichgültig. Meine Abtei in Fosse ist nur für Mönche vorgesehen. Ich befolge mit aller Strenge die Regeln des Zölibats, und ich erwarte das Gleiche auch von den Männern in meiner Gemeinschaft. Ich habe Bruder Cano mehrmals ermahnt, er möge diese widerwärtige Beziehung beenden. Äbtissin Ballgel kannte meine Ansichten. Es überrascht mich nicht, dass diese junge Frau mit ihren losen Sitten einen bitteren Preis zahlen musste.«

Fidelma zog erstaunt eine Augenbraue hoch.

»Das ist eine sehr interessante Aussage. Siehst du diese Angelegenheit nicht ein wenig zu ernst, Vater Abt?«

Heribert schaute sie misstrauisch an.

»Was meinst du damit?«

»Ich habe lediglich eine Beobachtung gemacht. Stört es dich, dass ich dich auf deine leidenschaftlichen Tiraden hinweise, mit denen du die unglückselige Schwester verunglimpfst?«

»Ich glaube an die Lehren des Paulus von Tarsus.«

»Und doch sind sie keineswegs Kirchengesetz. Auch der Heilige Vater spricht sich nicht gegen diejenigen aus, die das Zölibat ablehnen. Wir haben es hier nicht einmal mit einer Glaubensregel zu tun.«

»Noch nicht. Doch die Zahl derer, die wie wir an die Trennung von Männern und Frauen und an die Regeln des Zölibats glauben, wächst ständig. Eines Tages muss auch der Heilige Vater dieser Entwicklung Rechnung tragen. Er hat bereits angedeutet, dass das Zölibat sehr wohl der beste Weg in die Zukunft sein …«

»Bis das geschieht, ist es kein Gesetz. Nun gut, ich kenne jetzt deinen Standpunkt. Doch wir haben hier einen Mord aufzuklären. Wo ist Bruder Cano?«

Abt Heribert zuckte mit den Achseln.

»Bruder Sinsear hat mir gesagt, dass Bruder Cano das Kloster heute Morgen verlassen hat und dass man ihn gesehen hat, wie er diesen Pfad einschlug. Vielleicht wollte er sich mit Schwester Cessair treffen?«

Äbtissin Ballgel stöhnte leise auf.

»Wenn Cano sich mit Schwester Cessair treffen wollte … wenn er ihr so etwas antun konnte … dann müssen wir sofort Schwester Della finden.«

Fidelma lächelte ihr aufmunternd zu.

»Niemand hat bisher gesagt, dass Cano der Täter ist«, bemerkte sie ruhig. »Es scheint jedoch, dass wir außer einer vermissten Schwester auch noch einen vermissten Bruder suchen müssen. Vielleicht finden wir den einen mit der anderen. Wo ist Bruder Sinsear?«

Ein Mönch, der in der Nähe stand, hüstelte nervös und trat zögerlich einen Schritt auf Fidelma zu. Es war ein blasser junger Mann, kaum dem Jünglingsalter entwachsen. Sein Gesicht war angespannt, und starke Empfindungen schienen ihn zu überwältigen.

»Ich bin Sinsear.«

Fidelma blickte in sein gerötetes, ängstliches Gesicht.

»Du scheinst erregt zu sein, Bruder.«

»Ich arbeite mit Bruder Cano in den Gärten unseres Klosters, Schwester. Ich bin sein Freund. Ich wusste, dass er ein …« Er schaute nervös zu seinem Abt hin. »… eine Leidenschaft für Schwester Cessair hegte.«

»Eine Leidenschaft? Du musst nicht um die Sache herumreden, Bruder. War er in sie verliebt?«

»Ich wusste nur, dass sie sich regelmäßig hier im Wald trafen, weil der Vater Abt ihre Beziehung missbilligte.«

Abt Heribert warf ihm einen aufgebrachten Blick zu, aber Fidelma hinderte ihn mit einer Handbewegung am Sprechen.

»Rede weiter, Bruder Sinsear. Was sagtest du?«

»Sie hatten einen besonderen Treffpunkt auf einer Lichtung nicht weit von hier. Eine Holzfällerhütte. Unter den gegebenen Umständen, denke ich, sollte man sich diese Hütte ansehen.«

»Du hättest früher den Mund aufmachen sollen, Bruder«, bellte Abt Heribert. »Cano kann inzwischen bereits geflohen sein. Ich halte es für sinnlos, ihn in dieser Hütte zu suchen.«

»Du gehst bereits davon aus, dass er der Täter ist, Heribert«, wies ihn Fidelma zurecht. »Ich glaube, wir sollten uns zu dieser Hütte begeben. Kennst du den Weg dorthin, Bruder Sinsear?«

»Ich denke schon. Ein kleiner Pfad biegt etwa hundert Schritte von hier vom Weg ab.« Er deutete in Richtung Fosse, weg von der Eiche, wo man Cessair gefunden hatte.

»Wie tief in den Wald hinein?«

»Nicht mal eine viertel Meile.«

»Dann geh du voran. Vater Abt, du kannst die anderen Brüder deiner Gemeinschaft bitten, die Schwestern und Cessairs Leichnam zurück zur Abtei von Nivelles zu geleiten.«

Erst wollte Heribert Einwände machen, dann tat er aber, wie sie ihm geheißen hatte.

Bruder Sinsear schaute mit seinen hellen Augen zu Fidelma.

»Kann Cano wirklich so eine schreckliche Tat begangen haben? O Gott, solche Anmut und Schönheit derart zu misshandeln! Warum hat sie ihre Liebe nicht einem geschenkt, der diese wunderbaren Gaben zu schätzen …«

Abt Heribert unterbrach ihn.

»Wir wollen uns beeilen, Bruder Sinsear. Ich denke jedoch, es wird reine Zeitverschwendung sein. Falls Cano sie ermordet hat, versteckt er sich nicht in einer Hütte im Wald, sondern hat diese Gegend längst verlassen.«

»Du hast vergessen, dass auch Schwester Della vermisst wird«, erwiderte Fidelma ihm scharf. »Und wir sollten nicht den Fehler machen, von Canos Schuld auszugehen.«

»Ja, ja«, bellte Heribert. »Wie du willst.«

Bruder Sinsear ging voraus. Sie folgten ihm auf einem ausgetretenen Pfad durch den großen Wald.

Bald erreichten sie eine Lichtung, eine hübsche Wiese, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte. Dort stand eine primitive Holzhütte. Die Tür war verschlossen. Keinerlei Lebenszeichen war auszumachen.