»Würdest du das so bestätigen?«, fragte Fidelma Della.
Das Mädchen hatte sich auf einen Ellbogen gestützt. Sie sah immer noch bleich und verstört aus.
»Soweit ich kann. Ich erinnere mich nicht mehr an viel.«
»Nun gut. Wir sollten dich jetzt in eine der Abteien schaffen.« Sie schaute zu Cano, der nervös die Hände rang. Dann erkundigte sie sich plötzlich: »Hast du die Phiole mit dem Blut, Schwester Della? Mit dem Heiligen Blut der heiligen Gertrude?«
Della schüttelte den Kopf.
»Cessair hatte sie in ihrem marsupium.«
»Ich verstehe«, erwiderte Fidelma nachdenklich und winkte die anderen zu sich.
»Wir tragen Schwester Della nach Fosse«, sagte sie zu ihnen. »Ich möchte ihr noch einige Fragen stellen, aber erst sollten wir dafür sorgen, dass ihre Wunde ordentlich verbunden wird.«
Die Kirche und das Kloster von Fosse waren nicht so grandios wie einige andere Abteien, die Fidelma auf ihren Reisen gesehen hatten. Diese Abtei war ja auch erst zwanzig Jahre alt. Sie war kaum mehr als eine Ansammlung von Holzhäusern um eine große, rechteckige Holzkirche.
Schwester Della wurde unverzüglich ins Infirmarium gebracht, während der Abt die Äbtissin und Fidelma ins Refektorium führte, damit sie sich stärken konnten. Bruder Sinsear und Bruder Cano wurden in ihre Zellen beordert, wo sie die Befehle des Abtes erwarten sollten.
Äbtissin Ballgel war die Erste, die das peinliche Schweigen brach. Sie hatte Fidelma schon früher bei der Arbeit beobachtet, als sie noch beide in der Abtei von Kildare lebten.
»Nun, Fidelma, hast du bereits eine Vorstellung, wie diese schreckliche Geschichte geschehen ist? Und wo ist das Heilige Blut von Gertrude?«
»Wir wollen einmal zusammenfassen, was wir wissen. Bestimmte Dinge können wir ausschließen. Erstens, dass die Tat von Räubern begangen wurde. Ich habe bereits den wichtigsten Grund dafür genannt: die Schnitte in Cessairs Gesicht. Die zeugen allein von Hass. Zweitens haben wir Dellas Aussage, dass sie mit Cessair durch den Wald ging und dass sie nichts gehört hat, ehe ihr von hinten auf den Kopf geschlagen wurde.«
»Du meinst, wenn sich Räuber an sie herangeschlichen hätten, hätte sie das mitbekommen?«
»Genau. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass man so vollkommen unbemerkt hinter jemandem herlaufen kann, der durch einen Wald geht.«
Äbtissin Ballgel runzelte die Stirn.
»Du behauptest, dass Schwester Della lügt?«
»Nicht unbedingt. Aber sieh es einmal so: Stell dir einen Pfad im Wald vor, mit welken Blättern, Zweigen und so weiter. Ein Tier kann sich vielleicht leise über einen solchen Teppich bewegen, aber ein Mensch? Konnte ein Mann oder eine Frau unhörbar hinter den beiden herschleichen und sie dann überfallen, ehe sie sich’s versahen?«
»Dann müssen wir das Mädchen weiter befragen«, bellte Heribert, »und sie zu einem Geständnis zwingen.«
Fidelma blickte ihn missbilligend an.
»Was sollte sie denn gestehen?«
»Nun, dass sie das andere Mädchen getötet hat«, erwiderte Heribert.
Fidelma seufzte tief.
»Es gibt eine andere, sehr viel plausiblere Erklärung, warum Schwester Della nicht gehört hat, wie sich ihr Angreifer anschlich.«
Der Abt war rot angelaufen vor Ärger.
»Was für ein Spiel spielst du hier? Erst behauptest du dies, dann etwas anderes. Ich kann dir nicht folgen.«
Äbtissin Ballgel mischte sich ein, denn sie sah, wie Fidelmas Gesichtsmuskeln sich anspannten und ihre Augen die Farbe wechselten.
»Fidelma ist Anwältin, sie versteht etwas von solchen Dingen. Ich schlage vor, wir geben ihr die Gelegenheit, ihren Gedankengang weiter vorzutragen.«
Der Abt ließ sich, höhnisch grinsend, auf seinem Stuhl zurückfallen.
»Dann sprich weiter.«
»Ehe ich wieder zu meinen beiden ersten Argumenten zurückkehre, wollen wir noch eine andere Sache bedenken. Die Brutalität des Angriffs auf Schwester Cessair, dass der Täter ihr das Gesicht zerschnitt und Schwester Della nicht. Dass Della nur den Schlag auf den Kopf abbekam, der sie bewusstlos werden ließ. All das bedeutet, dass Cessair das Ziel dieses Überfalls war. Jemand muss einen tiefen Groll gegen sie gehegt haben.«
»Das klingt logisch, Fidelma«, stimmte ihr die Äbtissin zu.
»Dann müssen wir überlegen, wer Cessair so gehasst hat.«
Fidelma hielt inne und gab der Äbtissin und dem Abt Gelegenheit, ihren Vorschlag zu überdenken.
»Nun, da können wir beinahe alle ausschließen.« Die Äbtissin lächelte leise.
»Wieso?«
»Bruder Cano war ihr Liebhaber. Schwester Della war ihre beste Freundin im Kloster. Cessair hatte keine Feinde … außer …«
Plötzlich zögerte sie.
»Außer?«, ermunterte Fidelma sie vorsichtig.
Die Äbtissin schlug die Augen nieder.
Nun brauste Abt Heribert wütend auf.
»Außer mir, meinst du?« Er sprang auf. »Was willst du damit sagen? Denkst du, ich hätte Cessair gehasst, nur weil ich die Lehre des Zölibats vertrete? Weil ich den Männern in meiner Gemeinschaft jegliche Beziehung zu Frauen verbiete? Weil ich die Äbtissin dringend gebeten habe, Schwester Cessair zu untersagen, sich mit Bruder Cano zu treffen, wie ich ihm verboten hatte, sich mit ihr zu treffen? Soll das dazu dienen, mir einen Mord in die Schuhe zu schieben?«
»Hast du sie getötet?«
Fidelma sprach diese Frage so leise aus, dass es lange schien, als hätte der Abt sie nicht gehört.
»Wie kannst du es wagen!«
»Ich wage es, weil ich muss«, antwortete Fidelma ruhig. »Behalte dein Geschrei für dich, Abt. Wir sind hier, um die Wahrheit herauszufinden, nicht um deine Eitelkeit zu pflegen.«
Heribert lief zornesrot an. Er war sprachlos vor Wut.
Äbtissin Ballgel lehnte sich zu ihm hinüber.
»Abt Heribert, wir sind intelligente Menschen, die versuchen, ein Problem zu lösen. Weder Stolz noch Selbstachtung sollten diesen Vorgang behindern, denn wir suchen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«
Abt Heribert blinzelte.
»Ich verbitte mir, hier angeklagt zu werden …«
»Ich habe dich nicht angeklagt, Heribert«, erwiderte Fidelma. »Du hast es in deinem Stolz nur so empfunden. Aber da du nun einmal selbst das Thema angesprochen hast, sage ich dir frei heraus, dass du Cessair sicherlich nicht mochtest.«
Er starrte sie an und zuckte mit den Achseln.
»Das habe ich ja deutlich genug gezeigt. Nein. Ich empfand eine große Abneigung gegen sie, weil sie Bruder Cano vom rechten Weg abgebracht hat. Mehr noch, sie hat alle jungen Männer in meiner Gemeinschaft vom Pfad der Tugend gelockt. Ich habe sogar gesehen, dass sich Mönche wie Bruder Sinsear in ihrer Gegenwart wie verliebte Tölpel benahmen.«
»Mein Mentor, der Brehon Morann von Tara, pflegte zu sagen: Im Alter fällt es einem immer leichter, ein Mönch zu sein.« Fidelma seufzte.
Äbtissin Ballgel verkniff sich ein Lächeln.
»Jedenfalls«, fuhr Fidelma fort, »hast du erwartet, dass die Schwestern Cessair und Della um die Mittagszeit in Fosse ankommen würden, habe ich mir sagen lassen?«
»Das stimmt nicht ganz. Ich erwartete zwei Schwestern aus der Gemeinschaft von Äbtissin Ballgel, wusste aber nicht, wer das sein würde. Hätte ich geahnt, dass eine von ihnen Schwester Cessair ist …«
»Was hättest du dann gemacht?«
»Ich hätte sie daran gehindert, hierherzukommen und Bruder Cano weiter den Kopf zu verdrehen und ihn zu verführen.«
»Ach, Cano ist verführt worden?«, fragte Fidelma. »Ich dachte, er wäre in Cessair verliebt?«
Der Abt wand sich verlegen.
»Frauen sind die Versuchung, die Heilige vom Pfad der Gnade abbringt.«
Er senkte die Augen, denn er sah, wie in Fidelma Zorn aufstieg. Doch die hatte inzwischen eingesehen, dass es unmöglich sein würde, seine frauenfeindlichen Vorurteile zu überwinden, und beschlossen, die Bemerkung zu ignorieren.