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»Ballgel, warum hast du Cessair und Della ausgewählt, die Phiole mit dem Blut heute Morgen zum Gottesdienst zu bringen?«

»Wieso?«

»Jemand wusste, dass Cessair auf diesem Pfad durch den Wald kommen würde.«

Die Augen den Äbtissin weiteten sich.

»Gestern Abend kam Schwester Della zu mir und bat mich, sie die Phiole zum Segnungsgottesdienst bringen zu lassen. Sie fragte mich auch, ob sie ihre Begleitperson selbst aussuchen dürfte.«

»Und du wusstest nicht, dass sie Cessair auswählen würde?«

»Nun«, erwiderte die Äbtissin lächelnd, »ich nahm an, dass sie das tun würde. Die beiden waren unzertrennlich.«

»Dir war klar, dass sie Cessair als Begleitung durch den Wald von Seneffe wählen würde, obwohl der Abt Cessair entschieden missbilligte? Ist das nicht ein wenig seltsam?«

»Überhaupt nicht. Da bin ich wie du, Fidelma. Ich weigere mich, mir vorschreiben zu lassen, wen ich hierhin oder dorthin schicken darf.«

Abt Heribert kniff seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Er war offensichtlich höchst verärgert, sagte aber kein Wort.

»Also war Schwester Della die einzige Person, die wusste, dass Cessair sie begleiten würde, außer dir, Ballgel?«

Äbtissin Ballgel schaute ihre Freundin vorsichtig an.

»Du wirst dich erinnern, Fidelma«, sagte sie leise, »dass du in Nivelles ankamst, als uns Bruder Sinsear gerade die Schreckensnachricht überbracht hatte.«

Fidelma lächelte mitfühlend.

»Daran erinnere ich mich. Und du musst mir durchaus nicht beweisen, dass du keine Zeit gehabt hättest, die Tat zu begehen. Außerdem würde es einer Äbtissin schwerfallen, sich lange genug vom Kloster zu entfernen. Ich nehme auch an, dass du kein Motiv hattest?«

Ehe Ballgel antworten konnte, fuhr Abt Heribert dazwischen.

»Genauso würde es einem Abt schwerfallen, sich lange genug von seinem Kloster zu entfernen«, bemerkte er knapp.

»Das hatte ich nicht vergessen, Heribert«, erwiderte Fidelma ernst. »Aber sag uns, nur der Form halber, wo du um die Mittagszeit warst?«

Abt Heribert zuckte die Achseln.

»Nun gut, ich spiele dieses Spiel bis zum bitteren Ende mit«, erwiderte er und seufzte. »Heute, am Jahrestag des Todes der heiligen Gertrude, läuten wir am Mittag das Angelus, und danach halten wir einen Gedenkgottesdienst, nicht nur für Gertrude, sondern auch in Erinnerung an den heiligen Foillan, dem sie gestattet hat, unsere Abtei zu errichten. Die Phiole mit dem Heiligen Blut wird kurz vor dem Läuten des Angelus gebracht.

Zehn Minuten vor Mittag stand ich mit einigen Brüdern da und erwartete die Ankunft der beiden Schwestern, die gewöhnlich die Phiole von Nivelles zu uns bringen. Ich wusste nicht, welche Schwestern das sein würden. Als die Mittagsstunde kam und die Glocke geläutet wurde, überlegte ich, dass uns nichts anderes übrigbleiben würde, als den Gottesdienst auch ohne die Phiole zu halten.«

»Hast du niemanden ausgeschickt, der nach den Schwestern ausschauen sollte?«

»Man sagte mir, dass Bruder Sinsear bereits aufgebrochen war, um die Schwestern durch den Wald zu geleiten. Also war das nicht notwendig.«

»Ich verstehe. Sprich weiter.«

»Nun, wir haben den Gottesdienst gefeiert, und als er vorüber war, waren weder die Schwestern noch Bruder Sinsear aufgetaucht.«

»Bruder Sinsear war geradewegs nach Nivelles gekommen, um uns zu benachrichtigen«, erklärte Ballgel.

»Es dauerte eine ganze Weile, ehe er zu uns zurückkehrte«, stimmte ihr Heribert zu, »und auch uns die Schreckenskunde überbrachte. Wir machten uns unverzüglich auf den Weg in den Wald. Wir waren kaum dort angelangt, als ihr kamt.«

»Aha. Lässt du bitte Bruder Sinsear holen?«

Wenige Augenblicke später gesellte sich der junge Mönch zu ihnen. Er versuchte, seine rastlosen Hände unter Kontrolle zu bekommen, indem er sie auf dem Rücken hielt.

»Das ist eine schreckliche Angelegenheit«, hub er an und brach das Schweigen.

»Ich verstehe, dass du sehr verstört bist«, sagte Fidelma lächelnd. »Schließlich ist dein guter Freund in Gefahr. Der Finger des Verdachts ist auf ihn gerichtet.«

»Bruder Cano mag jähzornig sein, aber er würde nie … niemals …«

»Er ist jährzornig?«, unterbrach in Fidelma.

Bruder Sinsear ließ den Kopf hängen.

»Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich meinte …«

»Es stimmt«, meldete sich Abt Heribert zu Wort. »Ich habe ihn bereits des Öfteren wegen seines stürmischen Temperaments zurechtweisen müssen.«

»Nun, von dir, Bruder Sinsear, möchte ich nur, dass du uns ganz genau berichtest, was heute Mittag vorgefallen ist. So wie ich es sehe, bist du aufgebrochen, um dich auf die Suche nach den beiden Schwestern zu machen, die die Phiole mit dem Heiligen Blut bringen sollten? Wann war das?«

»Einige Zeit vor Mittag, glaube ich. Ja, es war eine halbe Stunde vor dem Angelusläuten. Das war nämlich die Zeit, zu der die Phiole in der Abtei sein sollte.«

»Hat man dir aufgetragen, dies zu tun?«

Bruder Sinsear schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber wie ich Cessair kannte … Nun, ich wusste, dass sie sich nicht gerade beeilen würde.«

Es herrschte kurz Schweigen.

»Du wusstest, dass eine der beiden Schwestern Cessair sein würde?«, drängte ihn Fidelma. »Wie konntest du das wissen?«

»Bruder Cano hat es mir gesagt. Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander. Er brach zu der Holzfällerhütte auf, wo er und Schwester Cessair sich gewöhnlich trafen. Mir war klar, dass dies die Ankunft der Phiole in der Abtei verzögern würde. Deswegen machte ich mich rechtzeitig auf, um ihnen entgegenzugehen und sie zur Eile anzutreiben. Leider kam ich zu spät.«

»Du fandest Cessair tot vor?«

»Ja. Sie war an den Baum gebunden, so wie du sie gefunden hast.«

»Und Schwester Della?«

»Es war nirgends etwas von ihr zu sehen. Also rannte ich schnurstracks nach Nivelles, um Äbtissin Ballgel zu alarmieren.«

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Fidelma.

»Wieso?«

»Es gab doch noch andere Möglichkeiten. Warum bist du nicht nach Fosse zurückgelaufen, zu Abt Heribert?«

»Weil es von dort näher nach Nivelles als nach Fosse ist«, antwortete Sinsear. »Ich hielt es für angebracht, die Nachricht erst nach Nivelles zu bringen und dann nach Fosse zurückzukehren und dort Alarm zu schlagen.«

»Bist du mit Cano seit seiner Ankunft in Fosse befreundet?«

»Er wurde mir als Helfer im Garten zugeordnet, und wir wurden Freunde.«

»Cessair kanntest du jedoch bereits, ehe Cano kam?«

»Ich habe Cessair und Della und viele andere Schwestern aus Nivelles kennengelernt. Es gibt viele Verbindungen zwischen den Abteien. Du musst wissen, dass es meine Aufgabe ist, einmal in der Woche Obst und Gemüse nach Nivelles zu bringen.«

»Bruder Sinsear hat völlig recht«, unterbrach ihn Heribert. »Mitglieder unserer Gemeinschaft gehen oft nach Nivelles, um dort beim Bau, bei der harten Arbeit auf den Feldern und bei der Ernte zu helfen. Bruder Sinsear hat erst gestern Nachmittag Lebensmittel nach Nivelles gebracht. Ah, und hat dich nicht Bruder Cano begleitet?«

Bruder Sinsear errötete und nickte zögernd.

Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen.

»Ich muss Schwester Della noch etwas fragen. Bitte wartet hier auf mich.«

Schwester Della im Infirmarium war zwar immer noch blass und schwach, aber es ging ihr sichtlich besser.

»Schwester Della«, begann Fidelma ohne Umschweife, »ich muss dir noch eine weitere Frage stellen. Warum hast du gebeten, man möge dich heute die Phiole mit dem Heiligen Blut nach Fosse tragen lassen?«

»Schwester Cessair wollte das gern.«

»Cessair also? Dann war es nicht deine Idee?«

»Nein. Und, ehrlich gesagt, es war auch nicht ihre. Sie wusste, dass es Ärger mit dem Abt geben würde, der sie nicht mochte, und war gar nicht erpicht auf diesen Gang. Aber Bruder Cano hatte sie gebeten zu kommen …«