»Wie hatte er das gemacht? Hatte er sie nicht erst gestern gesehen?«
»Nein. Er hat ihr eine Botschaft geschickt. Es gehen immer Leute zwischen den Abteien hin und her. Also hat er Cessair einen Brief geschickt und sie gebeten, vor der Mittagsstunde zu der Hütte zu kommen, damit sie kurz miteinander über ihre Zukunft sprechen könnten.«
»Warst du einverstanden mit diesen Treffen mit Cano?«
»Ich war doch Cessairs Freundin. Und ich weiß, dass einen die Liebe zu unendlich vielen Dummheiten verleiten kann. Ich dachte, du wolltest nur eine Frage stellen?«
»Das stimmt. Ist das der Brief?« Fidelma zog das Stück zerrissenes Papier aus ihrem marsupium.
Schwester Della schaute es an und zuckte die Achseln.
»Ich kann die Ogham-Schrift nicht lesen«, sagte sie. »Aber ich glaube, das ist ein Stück von dem Brief. Cano und Cessair haben die uralte irische Schrift benutzt, um sich geheime Nachrichten zu schreiben.«
Fidelma ging ins Refektorium zurück. »Ich glaube, ich habe die Lösung des Rätsels gefunden«, verkündete sie, sobald sie es betrat. Äbtissin Ballgel und Abt Heribert wandten ihr erstaunte Blicke zu.
»Wer ist also der Schuldige?«, wollte Heribert wissen.
»Lasst bitte Bruder Cano kommen. Du bleibst, Bruder Sinsear.«
»Bruder Cano«, begann Fidelma, nachdem der junge Mann eingetreten war, »deine Zukunft sieht düster aus.«
»Meine Zukunft ist leer«, berichtigte er sie. »Ohne Cessair ist mein Leben nichts als abgrundtiefer Schmerz.«
»Warum hast du Cessair gebeten, sich heute mit dir zu treffen?«
»Das habe ich dir doch bereits gesagt. Um zu besprechen, wie wir zusammen weggehen und ein gemischtes Haus finden könnten, wo wir leben und arbeiten und, so Gott will, unsere Kinder in Seinem Dienst erziehen könnten.«
»Wessen Idee war dieses Treffen?«
»Meine.«
»Ich dachte, vielleicht hätte dir das jemand anderer als Lösung für eure Probleme vorgeschlagen«, meinte Fidelma leise.
»Es ist doch völlig bedeutungslos, wer den Vorschlag gemacht hat«, entgegnete Cano. »Das war jedenfalls der Anlass unserer Verabredung.«
»Nein, es ist sehr wohl von Bedeutung. War es nicht Bruder Sinsear, der meinte, ihr solltet besser von hier weggehen?«
»Vielleicht. Sinsear ist mein Freund. Er sah, dass wir hier keine Zukunft hatten.«
»Du bist gestern Abend mit Bruder Sinsear nach Nivelles gegangen, um Gemüse dorthin zu bringen. Warum hast du da nicht mit Cessair gesprochen?«
»Wir kamen während des Abendgottesdienstes an, und da wir keinen Vorwand hatten, länger in Nivelles zu bleiben, schrieb ich Cessair ein Briefchen in Ogham, in dem ich das Treffen vorschlug. Ich wusste, dass sie die alte irische Schrift lesen kann, also habe ich ihr den Zettel geschrieben und ihn bei der Pförtnerin hinterlassen.«
»Ja, jetzt passt alles zusammen.« Fidelma seufzte. Sie wandte sich nun an den anderen jungen Klosterbruder. »Sinsear, würdest du bitte Äbtissin Ballgel die Phiole mit dem Heiligen Blut aus deinem marsupium reichen? Die Äbtissin ist außerordentlich besorgt darum, seit sie erfahren hat, dass es nicht mehr in Cessairs marsupium war.«
Bruder Sinsear fuhr zusammen und wurde bleich. Wie im Traum fasste er in den Beutel, der an seinem Gürtel hing, und übergab die Phiole.
»Ich fand sie am Boden … Ich wollte sie dir schon früher geben …«
Fidelma schüttelte traurig den Kopf.
»Eine der schrecklichsten Leidenschaften ist Liebe, die in Hass umgeschlagen ist, weil sie zurückgewiesen wurde. Ein Liebender, der das Objekt seiner Zuneigung mit einem Rivalen sieht, kann sich manchmal in den Teufel in Menschengestalt verwandeln.«
Bruder Cano schaute sie verwundert an.
»Cessair hat mich nicht zurückgewiesen«, rief er. »Ich sage es dir noch einmal, ich habe sie nicht umgebracht. Wir haben geplant, zusammen von hier fortzugehen.«
»Ich habe Sinsear gemeint«, erwiderte Fidelma. »Sinsears Liebe ist in Hass umgeschlagen, in eine Wut, die das Mädchen verletzen und verstümmeln wollte.«
Sinsear starrte sie mit offenem Mund an.
»Sinsear war schon lange in Cessair verliebt. Da er noch sehr jung war und seine Gefühle nicht ausdrücken konnte, verehrte er sie aus der Ferne, träumte von dem Tag, an dem er den Mut aufbringen würde, ihr seine Liebe zu gestehen. Dann kam Cano. Zuerst waren die beiden gute Freunde. Eines Tages stellte Sinsear Cano seiner Angebeteten vor. O Schreck! Cano und Cessair verliebten sich ineinander. Tag für Tag musste Sinsear ihre Leidenschaft mit ansehen. Seine Eifersucht steigerte sich so sehr, er war so erzürnt darüber, dass ihn, wie er die Dinge sah, Cessair verschmäht hatte, dass er darüber den Verstand verlor. Er wollte sich mit einer Gewalt an Cessair rächen, wie sie nicht einmal die Hölle kennt.«
Sinsears Gesicht war völlig ausdruckslos geworden.
»Er schlug Cano vor, er sollte sich mit Cessair in der Hütte treffen, um die gemeinsame Flucht aus ihren Klöstern vorzubereiten. Dann verließ er Fosse so rechtzeitig, dass er in die alte Eiche klettern und sich in ihren niedrigen Zweigen verbergen konnte, um dort auf Cessair und ihre Begleiterin zu warten. Deswegen hat Schwester Della nicht gehört, wie sich jemand von hinten anschlich. Sinsear sprang herunter. Ich habe die Fußabdrücke an der Stelle gesehen, wo er gelandet ist. Er betäubte Della mit einem Schlag auf den Hinterkopf, ehe sie es sich versah. Habe ich recht?«
Sinsear antwortete nicht.
»Vielleicht hat er dann Cessair seine Liebe gestanden? Vielleicht hat er sie angefleht, mit ihm wegzulaufen. Hat sie mit Angst und Schrecken darauf reagiert? Hat sie ihn ausgelacht? Wie hat sie diesen verstörten Möchtegern-Liebhaber behandelt? Wir wissen nur, was das Endergebnis war. Er schlug sie mehrmals auf den Kopf. Dann beschloss er, sie in einem grausamen Ritual, das uns seine Unreife beweist, für die Schönheit zu bestrafen, mit der sie ihn betört hatte, indem er ihr das Gesicht zerschnitt. Ob er sie davor an den Baum gebunden hat, werden wir erst erfahren, wenn er es uns sagt. Aber ich hege keinerlei Zweifel, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.
Irgendetwas muss ihn dazu bewogen haben, die Phiole mit dem Heiligen Blut mitzunehmen. Da gewann offenbar seine religiöse Erziehung die Oberhand. Denn anstatt die Phiole in Cessairs Beutel zu lassen, steckte er sie zur Sicherheit in seinen eigenen. Obwohl mir klar war, dass das Fehlen der Phiole für die Tat keinerlei Bedeutung hatte, konnte ich mir bisher keinen Reim darauf machen, warum sie verschwunden war.
Vielleicht bemerkte Sinsear dann, dass Schwester Della wieder zu sich kam. Er machte kehrt und rannte nach Nivelles, um Alarm zu schlagen. Er glaubte, Schwester Della würde vielleicht nach Fosse gehen, um dort Hilfe zu holen, und deswegen entschied er sich für Nivelles.«
Abt Heribert blickte Sinsear mit erschrockenen Augen an und sah auf den unbeweglichen Gesichtszügen des jungen Mönchs bestätigt, dass Fidelma die Wahrheit sprach.
»Wie ist dein Verdacht überhaupt auf Sinsear gefallen?«, fragte er.
»Ich kann dir viele Gründe dafür nennen. Man muss nur die Ereignisse noch einmal der Reihe nach überdenken. Seinem eigenen Wort nach ging Sinsear in den Wald, um Cessair und Della zu suchen. Er fand Cessair tot und an einen Baum gebunden. Er behauptet, er hätte diese Stelle erst erreicht, nachdem Della bereits verschwunden war. Aber wie konnte er die an den Baum gebundene Cessair sehen, die sich doch, von seiner Laufrichtung aus betrachtet, auf der dem Weg abgewandten Seite befand? Selbst wenn man annimmt, dass er vielleicht etwas gesehen haben mag, das ihm verdächtig erschien, dass er zu verstört war, um auf die Idee zu kommen, sie vom Baum herunterzuschneiden und herauszufinden, ob er sie wieder zum Leben erwecken könnte, warum ist er dann nach Nivelles gerannt?«