»Um Hilfe zu holen. Wie er dir bereits sagte, liegt Nivelles näher an dieser Stelle als Fosse. Es war nur logisch.«
»Aber es gab doch noch einen viel näher gelegenen Ort, wo er hätte um Hilfe rufen können«, erklärte Fidelma. »Warum ist er nicht dahin gerannt? Er wusste, dass Bruder Cano nur wenige hundert Schritte entfernt in der Hütte wartete. Wäre er unschuldig, dann wäre er zu Cano geeilt und hätte den zu Hilfe gerufen.«
Ein Aufschrei ließ sie alle erstarren.
Sinsear hatte ein Messer gezückt und stürzte sich, zusammenhanglose Wortfetzen murmelnd, auf Bruder Cano.
Cano verteidigte sich mit einem Schlag auf das Kinn des jungen Mönchs, der diesen zu Boden streckte.
»Nun kannst du ihn nach den Gesetzen bestrafen, die hier herrschen«, erklärte Fidelma Abt Heribert. Sie wandte sich der Äbtissin zu. »Und wir, Ballgel, werden die arme Schwester Della zurück nach Nivelles geleiten. Wir haben vieles zu besprechen …« Sie hielt inne und schaute traurig zu Bruder Cano, der ruhig dasaß, den Kopf in den Händen vergraben.
»Schon in der Antike war man sich dieses Gefühls bewusst, das dem Wahnsinn gleichen kann. Die Aegra amans – die Krankheit der Liebenden – kann die Menschen vollkommen um den Verstand bringen, kann die reifsten von ihnen völlig verwirren. Bei jungen und unreifen Menschen vermag die Liebe Seele und Verstand zu zerstören.«
DAS GEHEIMNIS DER MADONNA
Der Wind pfiff erbarmungslos, und das Heulen der Wölfe jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie waren in unmittelbarer Nähe, diese fürchterlichen Jäger der Nacht. Sehen konnte Schwester Fidelma sie nicht, denn das Schneetreiben nahm ihr jede Sicht. Die wirbelnden, eiskalten winzigen Flocken kamen in dichten Schwaden geflogen. Dahinter verschwand die Landschaft, kaum eine Armlänge konnte sie vor sich ausmachen.
Wäre es nicht so dringend gewesen, nach Cashel zu gelangen, dem Sitz der Könige von Muman, hätte sie nie den Ritt nach Norden unterhalb der dräuenden Gipfel der Berge von Comeraigh unternommen. Sie beugte sich im Sattel vor, um dem Unwetter standzuhalten. Dass sie auf einem Pferd unterwegs war, verdankte sie ihrem Rang als dálaigh bei den Gerichten der fünf Könige Irlands. Einer einfachen Nonne hätte kein Reittier zugestanden, aber Fidelma war keine einfache Nonne. Sie war die Tochter des verstorbenen Königs von Cashel, wirkte als Anwältin bei den Gerichtshöfen, die nach den Gesetzen des Fenechus Recht sprachen, und hatte sogar den Titel eines anruth erworben, die zweithöchste Auszeichnung eines Gelehrten. Unaufhörlich trieb ihr der Wind den Schnee ins Gesicht, der sich in den roten Haarsträhnen festsetzte, die unter ihrem cubhal, ihrem Schleier, hervordrängten und sie gegen die bleiche Stirn drückten. Konnte sich die Windrichtung nicht ändern, wenigstens für ein paar Minuten? Den Wind im Rücken zu haben wäre erträglicher gewesen. Doch der Sturm blies unablässig aus Nord.
Das bedrohliche Geheul der Wölfe kam näher. Bildete sie es sich nur ein, oder ritt sie dem Rudel auf dem einsamen Weg durch die Berge entgegen? Sie zitterte und schalt sich, dass sie die Nacht nicht im letzten Wirtshaus verbracht und milderes Wetter abgewartet hatte. Doch der Schneesturm hatte gerade begonnen, und es konnte Tage dauern, bis er sich legte. So viel Zeit aber blieb ihr nicht. Die Nachricht, die sie von ihrem Bruder Colgú erhalten hatte, war beunruhigend und drängend. Die Mutter lag im Sterben. Grund genug für Fidelma, bei so unbarmherzigem Wetter auf gefährlichem Pfad durch die im Schnee versinkende Bergwelt zu reiten.
Ihre Wangen waren eiskalt, die Hände steif und klamm, tapfer trotzte sie den vom Wind getriebenen Schneeschauern. Obwohl sie sich den schweren wollenen Umhang umgeschlungen hatte, klapperte sie mit den Zähnen und fror erbärmlich. Unversehens ragte eine dunkle Gestalt im Schneetreiben vor ihr auf. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, ihr Pferd scheute und wäre fast gestürzt. Doch sie konnte sich halten, das Ross zügeln und erlöst aufatmen. Wenige Schritte vor ihr stand ein majestätischer Hirsch, beäugte sie, wandte sich mit einem Ruck um und verschwand im hoch aufstiebenden Flockenwirbel.
Sie ritt weiter und merkte bald, dass sie auf den Kamm einer Anhöhe geraten war, denn der Sturm drohte sie vom Pferd zu werfen. Auch ihr Tier senkte den Kopf und stemmte sich mit den Hufen gegen den Boden, um dem eisigen Ansturm besser standhalten zu können.
Fidelma schaute blinzelnd in der vor ihr verschwimmenden Landschaft umher. Sie glaubte, ein Licht erblickt zu haben. Oder war es nur Einbildung? Wieder und wieder blinzelte sie, trieb ihr Pferd voran, mühte sich, die Richtung nicht zu verlieren. Unbewusst zog sie ihren Überwurf noch dichter um Schultern und Hals.
Doch! Sie hatte richtig gesehen. Da war ein Licht!
Sie hielt an, glitt vom Pferd und schlang die Zügel locker um den Arm. Der Schnee war knietief, darin vorwärtszukommen war fast unmöglich. Aber sie konnte mit dem Ross nicht blindlings durch die Schneewehen reiten, sie musste sich erst selbst überzeugen, ob sie noch festen Boden unter den Füßen hatte. Binnen kurzem geriet sie an einen hohen Pfahl. Sie hob den Kopf, versuchte, in dem Schneegestöber etwas zu erkennen. Und siehe da, über ihrem Kopf schwankte eine Sturmlaterne im Wind.
Wo genau sie sich befand, enthüllten ihr die wirbelnden Flocken nicht. Doch sie war sich sicher, dass die Laterne das übliche Zeichen eines bruidhen, eines Gasthofs, war, denn es gab ein Gesetz, das alle Gastwirte verpflichtete, nachts oder bei Wetterunbilden eine Laterne als Wegweiser anzuzünden.
Sie entschied sich auf gut Glück für eine Richtung, in die sie weiter durch den tiefen Pappschnee stapfen wollte. Dann ließ der Wind für einen Moment nach, und sie konnte die dunklen Umrisse eines Gebäudes ausmachen. Erneut toste der Sturm los, sie zog den Kopf ein und wankte auf das Haus zu. Mehr durch Zufall als durch irgendeinen Fingerzeig geriet sie an die Querstange zum Anbinden der Pferde, knotete die Zügel fest und tastete sich an der kalten Steinwand zur Tür.
Das Schild über dem Eingang konnte sie nicht entziffern. Mit Befremden nahm sie einen an der Tür hängenden, fast völlig eingeschneiten Kranz trockener Gräser und Kräuter wahr. Sie griff nach der eisernern Klinke, drückte sie herunter und rüttelte daran, doch die Tür gab nicht nach. Unmutig krauste sie die Stirn. Dem Gesetz nach war jeder brugh-fer, jeder Gastwirt, verpflichtet, seine Tür zum Gasthaus Tag und Nacht und bei jedem Wetter geöffnet zu halten.
Wieder ließ der Sturm etwas nach, und sein Heulen schwächte sich zu einem leisen Stöhnen ab. Erbost hämmerte Fidelma mit der geballten Faust an die Tür. Ertönte von drinnen ein Aufjammern, oder war es nur das Wimmern des um die Ecken streichenden Luftzugs?
Jede andere Antwort blieb aus. Abermals trommelte sie gegen die Tür, nun schon richtig wütend. Dann vernahm sie ein Geräusch, hörte Schritte, und eine krächzende Männerstimme rief: »Gott und seine Heiligen, stellt euch zwischen uns und allem, das von Übel ist! Hebe dich hinweg, verfluchter Geist!«
Fidelma stand wie vom Donner gerührt, fasste sich rasch und rief, so laut sie konnte: »Mach auf, Gastwirt! Öffne einer Anwältin der Gerichtshöfe, öffne einer Schwester aus der Abtei Kildare! Im Namen der Barmherzigkeit, öffne einer, die bei dem Unwetter nicht weiterkann!«
Einen Augenblick blieb alles still. Dann glaubte sie Stimmen zu hören, die sich heftig stritten. Noch einmal pochte sie mit aller Kraft.
Schließlich wurden Riegel zurückgezogen, und die Tür ging auf. Ein Schwall warmer Luft umfing Fidelma, sie drängte sich hinein und schüttelte den Schnee von ihrem wollenen Umhang.
»Was ist das für ein Gasthaus, das die Gesetze der Brehons missachtet?«, fuhr sie den Mann an, der die Holztür hinter ihr schloss.