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Schwester Fidelma machte ein nachdenkliches Gesicht. Was der Abt da sagte, war gewiss richtig. Die Menschen glaubten felsenfest an sinnstiftende Zeichen, die aus dem Nebel uralter Zeiten herrührten.

»Wenn die Menschen sich doch endlich auf ihre eigenen Fähigkeiten besinnen wollten und nicht an Symbolen hängen würden«, äußerte sich der Abt weiter. »Die Zeit ist gekommen, Reformen einzuleiten, sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Dingen. Wir klammern uns zu sehr an die heidnischen Vorstellungen unserer Ahnen, die aus der Zeit stammen, bevor das Licht Unseres Erlösers diese Küsten erreichte.«

»Wie ich sehe, machst du dir bereits die Reformen, die Rom anstrebt, zu eigen«, bemerkte Schwester Fidelma scharfsinnig.

Der Abt gab sich nicht sonderlich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Woran willst du das erkannt haben?«

»Dazu bedarf es keiner besonderen Schläue, Abt Colmán. Man sieht es auf den ersten Blick«, erklärte sie lächelnd. »Du trägst die Tonsur des heiligen Petrus, also das Abzeichen Roms, und nicht die des heiligen Johannes, den unsere Kirche zum Vorbild hat.«

Der Abt zog ein Gesicht. »Ich bekenne, dass ich fünf Jahre lang in Rom war und dort eingesehen habe, dass Reformen unumgänglich sind. Ich betrachte es als meine Pflicht, unserem Volk nahezulegen, den Sitten und Bräuchen der Kirche Roms zu folgen und unsere veralteten Rituale, Symbole und Traditionen aufzugeben.«

»Wir haben es aber mit Menschen zu tun, wie sie sind, und nicht mit Menschen nach unseren Wunschvorstellungen.«

»Umso mehr müssen wir uns bemühen, sie zu ändern«, erwiderte der Abt salbungsvoll, »und ihre Schritte auf den wahren Pfad zu Gottes Gnade lenken.«

»Lassen wir den Streit über die Reformen Roms«, sagte Schwester Fidelma ruhig. »Ich jedenfalls werde mich weiterhin nach der Regel der heiligen Brigid von Kildare richten, in deren Abtei ich meine Gelübde abgelegt habe. Doch jetzt hätte ich gern gewusst, wozu man mich nach Tara geholt hat?«

Der Abt zögerte mit seiner Antwort, als wäre er unschlüssig, das Thema der von Rom ausgehenden Reformen zu beenden, schniefte dann aber laut und versuchte so seine Verärgerung zu überspielen. »Wir müssen das verschwundene Schwert vor der Inauguration des Hochkönigs finden, und die ist für morgen angesetzt. Sonst laufen wir Gefahr, einen Bürgerkrieg unter den fünf Königreichen Irlands zu entfesseln.«

»Von wo wurde es gestohlen?«

»Von hier, aus eben dieser Kapelle. Das heilige Schwert befand sich zusammen mit dem Lia Fáil, dem Stein des Schicksals, unter dem Altar. Es war in einer Holztruhe mit Metallbeschlägen eingeschlossen. Der einzige Schlüssel lag immer für jedermann sichtbar auf dem Altar. Niemand würde es je wagen, so dachte man, die geweihte Stätte ruchlos zu verletzen und die geheiligten Schätze zu stehlen.«

»Und nun hat es dennoch jemand gewagt?«

»So ist es. Wir haben den Schuldigen in einer Gefängniszelle festgesetzt.«

»Und der Täter ist …?«

»Ailill Flann Esa, der Sohn Donalds, der vor zwanzig Jahren Hochkönig war. Ailill hatte sich im Widerstreit mit seinem Vetter Sechnussach um das Amt des Hochkönigs beworben. Offensichtlich sucht er jetzt aus Rache seinen Vetter in Verruf zu bringen, denn der Große Rat hat seine Bewerbung abgewiesen.«

»Gibt es Zeugen für den Diebstahl?«

»Drei. Zwei Krieger der Palastwache, Congal und Erc, haben ihn nachts allein in der Kapelle angetroffen. Und ich selbst bin wenige Augenblicke später dazugekommen.«

Schwester Fidelma betrachtete den Abt einigermaßen verwirrt. »Wenn er beim Diebstahl ertappt wurde, warum hat man das Schwert nicht bei ihm gefunden?«

Der Abt hatte Mühe, Geduld zu bewahren. »Offenbar hat er es versteckt, bevor man ihn erwischte. Wahrscheinlich hat er die Wachen kommen hören und hat es irgendwo verborgen.«

»Hat man die Kapelle durchsucht?«

»Ja, aber gefunden wurde nichts.«

»Nach dem, was du bisher gesagt hast, kann niemand bezeugen, dass er gesehen hat, wie Ailill das Schwert an sich nahm.«

Der Abt bedachte sie mit einem väterlichen Lächeln. »Meine liebe Schwester, die Kapelle wird nachts sicher verwahrt. Der Diakon hat seinen letzten Rundgang gemacht und sich vergewissert, dass alles in Ordnung war. Die Palastwachen, die draußen patrouillierten, haben um Mitternacht festgestellt, dass die Tür verschlossen war. Als sie zwanzig Minuten später wieder dort vorbeikamen, stand die Tür offen. Der Riegel, mit dem üblicherweise die Tür von innen zugesperrt wird, war gewaltsam aufgebrochen worden. Sie gingen hinein und sahen Ailill beim Altar. Der Altartisch war beiseite geschoben, die Truhe war geöffnet, das Schwert war verschwunden. Genügend Fakten, die den Täter offenkundig belasten.«

»So offenkundig vielleicht doch nicht, Abt Colmán«, erwiderte Schwester Fidelma verhalten.

»Sechnussach und mir schienen sie offenkundig genug, um Ailill Flann Esa sofort festzunehmen.«

»Und das Motiv, würdest du meinen, ist reine Böswilligkeit?«

»Auch daran gibt es nichts zu deuteln. Ailill will die Amtseinführung Sechnussachs als Hochkönig verhindern. Vielleicht malt er sich sogar aus, Verwirrung und Gesetzlosigkeit nutzen und die Stämme gegeneinander aufwiegeln zu können. Könnte sein, er beabsichtigt, Sechnussach zu stürzen und sich selbst zum Hochkönig zu machen, indem er das heilige Schwert aus seinem Versteck holt und sich dem von der Gelben Pest verunsicherten Volk als Retter anbietet.«

»Wenn ihr euren Schuldigen habt und sein Motiv kennt, warum hast du mich dann holen lassen?«, fragte Schwester Fidelma mit leicht ironischem Unterton. »Außerdem gibt es am Hof von Tara bestimmt Anwälte und Richter, die mehr Erfahrung haben als ich.«

»Doch niemand steht so im Ruf, verzwickte Rätsel lösen zu können, wie du, Schwester Fidelma.«

»Aber das Schwert muss sich in der Kapelle befinden oder in der unmittelbaren Umgebung davon.«

»Wir haben gesucht und gesucht und es nicht entdecken können. Die Zeit drängt. Man hat mir versichert, dass du die Gabe besitzt, das rätselhafte Verschwinden eines so wesentlichen Gegenstandes aufzuklären. Man spricht davon, wie geschickt du Tatverdächtige befragen und ihnen die Wahrheit entlocken kannst. Gewiss hat Ailill das Schwert in nächster Nähe verborgen. Wir müssen vor der Amtseinsetzung des Hochkönigs herausbekommen, wo es steckt.«

Schwester Fidelma schürzte die Lippen und zuckte die Achseln. »Zeig mir, wo das Schwert aufbewahrt wurde, und danach werde ich Ailill befragen.«

Ailill Flann Esa war etwa Mitte dreißig, hatte braunes Haar und trug einen Vollbart. Seine Art sich zu geben, war vom Stolz geprägt, Sohn eines ehemaligen Hochkönigs zu sein. Das war Donald Mac Aed von den nördlichen Uí Néill gewesen, der zwanzig Jahre lang das Land von Tara aus regiert hatte.

»Ich habe das heilige Schwert nicht gestohlen«, brauste er auf, sobald Schwester Fidelma den Zweck ihres Kommens genannt hatte.

»Dann erkläre mir, warum du dich zu so ungewöhnlicher Zeit in der Kapelle aufgehalten hast«, forderte sie ihn auf und setzte sich auf die Holzbank an einer der grauen Steinwände seiner Zelle. Ailill zögerte zunächst, nahm dann aber auf einem Schemel vor ihr Platz. Ein hölzernes Bettgestell und ein Tisch vervollständigten die Ausstattung seiner gegenwärtigen Behausung. Der Anwältin war klar, dass man ihm nur wegen seines Ranges derartige Annehmlichkeiten zugestanden hatte, die sein feuchtkaltes Granitgefängnis etwas erträglicher machten.

»Ich bin an der Kapelle vorbeigekommen …«, begann Ailill.

»Warum?«, unterbrach sie ihn. »Es war schon nach Mitternacht, soviel ich weiß.«

Der Mann zog unwillig die Brauen zusammen; offenbar war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand ins Wort fiel. In seinem hochmütigen Gesicht zuckte es, und Schwester Fidelma musste ein Schmunzeln unterdrücken. Aus seinem Verhalten war ersichtlich, dass er hatte unwirsch entgegnen wollen, doch besann er sich eines Besseren – sie hatte den Rang eines anruth und damit die Macht des Obersten Gerichts hinter sich. So zögerte er nur kurz.