»Und du bist sicher, dass Ailill deinem Bruder nicht grollt? Ein derartiger Groll könnte ihn doch veranlasst haben, das heilige Schwert zu verbergen und damit Sechnussach in Verruf zu bringen.«
»Ailill mag in vielem mit meinem Bruder nicht einer Meinung sein, aber er achtet die Entscheidung des Großen Rats, die sich auf die Brehon-Gesetze stützt und die deshalb geheiligt und bindend ist«, erwiderte Ornait mit Überzeugung. »Und mit dieser Auffassung steht er nicht allein. Auch mein Vetter Cernach Mac Diarmuid glaubt, dass ihm ein größeres Recht als Sechnussach zukommt, Hochkönig zu werden. Ihm missfällt außerordentlich, dass mein Bruder die Reformen ablehnt, die von Rom empfohlen werden. Doch es dauert noch einen Monat, bis Cernach das Alter der Wahl erreicht, und erst dann könnte er dem Gesetz nach meinem Bruder das Amt des Hochkönigs streitig machen. Weil Cernach also noch zu jung ist, sich selbst um die Königswürde zu bewerben, hat er Ailills Anspruch unterstützt. Bei der Bewerbung um das Königsamt zu unterliegen ist kein Verbrechen. Und wenn der Große Rat seine Entscheidung getroffen hat, ist das bindend für alle und kann nicht mehr angefochten werden. Nein, und tausendmal nein! Ailill würde so etwas niemals tun.«
»Nun, Schwester?« Der Abt betrachtete Fidelma aus zusammengekniffenen Augen.
»Zur Zeit habe ich noch nichts zu berichten, nur eine Frage möchte ich noch stellen.«
Sie hatte Abt Colmán in seinem Studierzimmer in der Abtei aufgesucht, die sich hinter dem Palas von Tara auf dem Burggelände befand. Der Abt saß an einem Tisch und hatte eine reichgeschmückte Handschrift vor sich. Er sah, dass ihr Blick als Erstes auf das Buch fiel und lächelte wohlgefällig.
»Das ist das Evangelium des Johannes, unsere Brüder in Clonmacnoise haben es geschrieben. Ein herrliches Werk, es soll unseren Brüdern auf der heiligen Insel des Colmcille überreicht werden.«
Schwester Fidelma schaute nur kurz auf die prachtvoll gestalteten Seiten der Handschrift. Die Schreiber und Buchmaler hatten wundervolle Arbeit geleistet, doch sie mochte mit ihren Gedanken nicht dabei verweilen. So fragte sie nach kurzer Pause: »Wenn im Königreich ernsthafte Kämpfe ausbrächen und man Ailill infolgedessen zum Hochkönig machte, würde er dann von den althergebrachten Grundsätzen abweichen, die Sechnussach vertritt?«
Die Frage überraschte den Abt, er ließ den Unterkiefer sinken und schaute verunsichert drein, fasste sich aber rasch und überlegte einen Moment. »Ich denke, das könnte ich mit ja beantworten.«
»Würde Ailill in einem solchen Falle auf Äbte und Bischöfe Druck ausüben, die Kirche zu reformieren?«
Colmán kratzte sich hinterm Ohr. »Es ist kein Geheimnis, dass Ailill eine Annäherung an die Kirche Roms befürwortet, denn er hält die erforderlichen Reformen für gerechtfertigt. In den Stämmen der Uí Néill gibt es nicht wenige, die ebenso denken. Cernach Mac Diarmuid zum Beispiel. Er setzt sich unter den Laien in besonderem Maße für derartige Reformen ein. Ein Heißsporn mag er ja sein, aber er hat ziemlichen Einfluss. Er ist ein Jüngling, der dem Thron von Tara nahesteht, wird jedoch erst in einem Monat volljährig und darf dann den ihm zustehenden Platz in den Ratsversammlungen der fünf Königreiche einnehmen.«
»Sechnussach aber hält nichts von diesen Wandlungen und würde an den traditionellen Riten und der Liturgie unserer Kirche festhalten?«
»Zweifelsohne.«
»Und du, als einer von der pro-römischen Gruppierung, würdest du Ailills Vorgehen gutheißen?«
Der Abt war empört und wurde rot.
»Das würde ich. Meine Haltung habe ich nie verborgen. Doch gleichzeitig betone ich unmissverständlich, dass ich die Gesetze achte. Dem Hochkönig, der nach diesen Gesetzen gewählt wurde, halte ich die Treue. Als Anwältin bei Gericht der Brehons hast du ein besonderes Vorrecht, doch darf ich dich daran erinnern, dass ich der Abt von Tara bin und damit auch Vater und Vorgesetzter deines Ordens.«
Schwester Fidelma neigte ergeben das Haupt.
»Ich versuche lediglich, Fakten zusammenzutragen, Abt Colmán. Und ich stelle meine Fragen als eine dálaigh beim Obersten Gericht, nicht als Glaubensschwester der Abtei Kildare.«
»Gut, dann biete ich dir so einen Fakt: Ich habe Ailill Flann Esa beschuldigt. Hätte ich gebilligt, was er getan hat, um Sechnussach zu stürzen, nur weil Ailill vorhatte, die Kirche in Irland mit der von Rom in Übereinstimmung zu bringen, dann wäre ich doch nicht bereit gewesen, derart rasch auf Ailill als den Schuldigen zu zeigen. Ich hätte die Wächter leicht überreden können, dass jemand anderes die Tat vollbracht hat.«
»Das hättest du tun können«, bestätigte ihm Fidelma. »Wenn Ailill sich aber an dem Heiligtum vergangen hat, hast du davon keinen Nutzen.«
»Genauso ist es«, brummte der Abt. »Und ich bleibe dabei, Ailill ist der Schuldige.«
»So scheint es zu sein.«
Fidelma war im Begriff zu gehen, blieb stehen und blickte zurück. »Übrigens, da ist noch eine Kleinigkeit, über die ich mir Klarheit verschaffen möchte. Wie hat es sich ergeben, dass du ausgerechnet zu dem besagten Zeitpunkt in der Kapelle erschienen bist?«
Der Abt runzelte die Stirn. »Ich hatte meinen Psalter in der Sakristei vergessen«, erwiderte er gereizt, »und den wollte ich mir holen.«
»Wäre der dort nicht auch bis zum Morgen sicher verwahrt gewesen? Allein deshalb hat es dich nachts in der Kälte in die Kapelle getrieben?«
»Es war mir dringlich, eine Stelle im Text nachzuschlagen; allerdings musste ich nicht durch die kalte Nacht gehen …«
»Nicht? Wie konntest du denn sonst in die Kapelle gelangen?«
Der Abt stöhnte ungehalten. »Es gibt einen unterirdischen Gang, der von der Abtei in die Sakristei führt.«
Fidelma war wie vom Donner gerührt. Siedend heiß ging ihr auf, wie sehr sie sich zum Narren gemacht hatte. Dieser Umstand hätte ihr längst ins Auge springen müssen. »Bitte zeige mir diesen Gang.«
»Ich werde einen der Brüder rufen, der kann ihn dir zeigen. Ich bin mit den Vorbereitungen für die Amtseinführung beschäftigt.«
Abt Colmán streckte die Hand nach einer Silberglocke aus, die auf dem Tisch stand, und klingelte.
Fast unmittelbar darauf kam ein Mann mit einem Mondgesicht herein. Er trug die braune Kutte des Ordens der Abtei und hielt die Arme in den weiten Ärmeln des Habits verborgen. Sein Atem roch so stark nach Knoblauch, dass Fidelma schon von weitem der scharfe Geruch in die Nase stieg.
»Das ist Bruder Rogallach«, sagte der Abt und wies mit der Hand auf ihn. »Rogallach, ich möchte, dass du Schwester Fidelma den Gang zur Kapelle zeigst.« Er blickte wieder zu Fidelma hin und hob fragend die Augenbrauen. »Es sei denn, es liegt dir noch etwas anderes am Herzen …?«
»Nein, danke, nichts weiter«, erwiderte sie ruhig. »Gegenwärtig jedenfalls nicht.«
In einem der Gänge der Abtei blieb Bruder Rogallach stehen, nahm eine Kerze und zündete sie an. Dann zog er einen Wandbehang zur Seite, der eine Öffnung verdeckt hatte. Steinstufen führten nach unten.
»Gelangt man nur von hier in den unterirdischen Gang zur Kapelle?«, fragte Schwester Fidelma.
Bruder Rogallach nickte. »Ja, nur von hier.« Diese junge Frau verunsicherte ihn, überall in der Abtei wurde über ihren Rang getuschelt und weswegen sie hier war.
»Wer alles kennt diesen Zugang?«, hakte sie nach.
»Eigentlich jeder in der Abtei. Wir nutzen ihn bei schlechtem Wetter, um trockenen Fußes zum Gottesdienst zu gelangen.« Der Mönch öffnete den Mund zu einem treuherzigen Lächeln, wobei seine schadhaften, schwärzlichen Zähne sichtbar wurden.
»Wissen auch Leute davon, die nicht in der Abtei leben?«
»Das ist überhaupt kein Geheimnis, Schwester. Jeder, der eine Weile in Tara gewesen ist, kennt ihn.«
»Demnach hat auch Ailill gewusst, dass so ein Gang existiert?«
»Selbstverständlich.« Bruder Rogallach bekräftigte das mit einer Handbewegung.