Alle schwiegen und lauschten gespannt.
»So viel zu dem offensichtlichen Motiv«, fuhr Schwester Fidelma fort. »Doch wenden wir uns den Tatumständen des Diebstahls zu. Kurz nach Mitternacht gehen zwei Wachleute an der Tür der Kapelle vorbei und sehen, dass die Tür geschlossen ist. Als sie zwanzig Minuten später wieder an der Tür vorbeikommen, bemerken sie, die Tür steht offen, der Riegel wurde gewaltsam aufgebrochen. Sie gehen in die Kapelle hinein und erblicken Ailill, der in die leere Truhe starrt, in der das Schwert verwahrt wird. Zu ihnen gesellt sich der Abt. Er ist aus der Sakristei gekommen, in die er durch den unterirdischen Gang gelangt war, der zwischen Abtei und Kapelle besteht. Er beschuldigt Ailill, das Schwert gestohlen und versteckt zu haben. In der Kapelle wird das Schwert nicht gefunden. Wenn Ailill es gestohlen hatte, wie hat er es derart schnell und geschickt verbergen können? Selbst die zehn Minuten, die ihm die Wächter zubilligen, hätten dazu nicht ausgereicht. Das ist die Frage, die sich mir bald stellte.«
Fidelma unterbrach ihre Darlegungen und schaute Ornait, die Schwester des Hochkönigs, an.
»Wie Ailill Flann Esa es schildert, ging er zufällig an der Kapelle vorbei, sah das geöffnete Portal und bemerkte auch, dass es jemand aufgebrochen hatte. Aus purer Neugier trat er ein und erblickte die leere Truhe.«
»Das wissen wir längst. So und nicht anders hat Ailill uns die Geschichte erzählt«, rief Sechnussach dazwischen. »Hast du dem etwas Neues hinzuzufügen?«
Schwester Fidelma ließ sich durch den aufgeregten Hochkönig nicht aus der Fassung bringen. »Nur eine Ergänzung möchte ich anfügen. Ailill ging zu der Nachtstunde an der Kapelle vorbei, weil er auf dem Wege zu Ornait war.«
Ornait wurde rot. Sechnussach blieb vor Überraschung der Mund offen; aufgebracht drehte er sich zu seiner Schwester.
»Tut mir leid, Ornait, dass ich dein Geheimnis nun doch nicht hüten kann. Aber die Wahrheit muss heraus, es steht zu viel auf dem Spiel.«
Trotzig schob Ornait das Kinn vor und starrte ihren Bruder an.
»Was hast du dazu zu sagen, Ornait? Warum wollte dich Ailill mitten in der Nacht besuchen?«, verlangte der Hochkönig zu wissen.
Das Mädchen warf den Kopf zurück. »Ich liebe Ailill, und er liebt mich. Wir hatten vor, es dir zu gestehen, wollten aber damit bis nach deiner Amtseinführung warten, in der Hoffnung, du würdest uns hinfort gnädiger gesonnen sein.«
Fidelma hob die Hand, als Sechnussach zu einer wütenden Entgegnung ansetzte. »Sich darüber zu verständigen ist nachher Zeit genug. Bleiben wir jetzt bei der Sache. Nehmen wir an, Ailill spricht die Wahrheit, dann ist Folgendes in Betracht zu ziehen: Jemand muss von Ailills Verabredung mit Ornait gewusst und in der Kapelle gewartet haben. Ich selbst bin zum ersten Mal in Tara und hatte daher keine Ahnung, dass man in die Kapelle auch durch einen Geheimgang gelangt. Allerdings hätte ich mich sogleich fragen müssen, wenn die Kapellentür nachts von innen verriegelt wird, wie konnte der Diakon die Kapelle verlassen, nachdem er das Portal gesichert hatte? Ich hätte mir denken können, dass es noch einen weiteren Zugang gibt.«
»Selbstverständlich weiß das ein jeder in Tara«, bekräftigte Sechnussach.
»O ja«, entgegnete Fidelma und lächelte, »vermutlich hat man sich gedacht, ich würde irgendwann von selbst dahinter kommen.«
»Aber der wesentliche Punkt ist doch, dass die Türverriegelung gewaltsam aufgebrochen wurde«, mischte sich Abt Colmán gereizt ein.
»Richtig. Nur nicht von außen«, erwiderte Schwester Fidelma. »Wiederum muss ich gestehen, ich hatte meine Gedanken nicht recht beisammen, sonst hätte ich es sofort erkannt. Bricht man eine verriegelte Tür auf, dann wird die Eisenkrampe, hinter die der Riegel greift, aus dem Türpfosten gerissen. Bei der Kapellentür aber wurde der Riegel aus seinen Halterungen auf den Türbeschlägen getrieben, sodass das Holz splitterte.«
Einen Augenblick lang schaute sie in die Gesichter, die sie verständnislos anstarrten.
»Was da vor sich gegangen ist, war eigentlich ganz einfach. Der Täter hatte die Kapelle durch den unterirdischen Gang betreten, hatte sich den Schlüssel gegriffen, den Altartisch beiseitegeschoben und die Truhe geöffnet. Das Schwert wurde herausgenommen und in ein Versteck geschafft. Dann war der Schuldige zurückgekommen und hatte den Schauplatz nach seinen Vorstellungen hergerichtet. Er hatte sich vergewissert, dass die Wächter außer Hörweite waren, hatte die Tür geöffnet und dann einen Stein gepackt und damit auf den Riegel eingedroschen. Anstatt die Krampe aus dem Türpfosten zu schlagen, wurde der Riegel auf dem Türblatt lädiert. Diese Spur war derart deutlich, dass ich sie zunächst übersah. Ich hatte nur den verbogenen Riegel im Blick.«
Ornait lächelte unter Tränen. »Ich wusste doch, Ailill kann den Frevel nicht begangen haben. Der wirklich Schuldige hat alles so eingerichtet, dass Ailill die Tat angelastet wird. Deinen Ruf, schwierigste Rätsel lösen zu können, hast du dir zu Recht erworben, Schwester Fidelma.«
Die so Gelobte hatte dafür nur ein Schmunzeln übrig. »Es bedurfte keiner besonderen Begabung, um aus den Umständen zu schließen, dass Ailill Flann Esa das Schwert nicht so wie angenommen gestohlen haben konnte.«
Der bislang Beschuldigte fuhr Schwester Fidelma an: »Wer ist denn nun der Täter?«
Sie überhörte seine Frage. »Wem hätte die Tat nutzen können? Abt Colmán ist ein eifriger Verfechter Roms. Er hätte seine Absichten durchsetzen können, wenn Sechnussach beseitigt würde. Und Abt Colmán war zur rechten Zeit an der richtigen Stelle. Er hätte die Gelegenheit gehabt, die Tat zu vollbringen.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«, brauste der Abt auf. »Mich ungerechterweise zu beschuldigen! Ich bin dein Vorgesetzter, Fidelma von Kildare. Ich bin der Abt von Tara und …«
Fidelma krauste die Lippen. »Du brauchst mich nicht an deine Stellung in der Kirche zu erinnern, Abt Colmán«, erwiderte sie ruhig. »Ich darf dich aber daran erinnern, dass ich hier als Anwalt des hohen Gerichts der Brehons spreche und dass du selbst mich gerade deswegen hierhergerufen hast.«
Der Abt wurde rot. Einen Moment später brachte er beherrscht heraus: »Dass ich die Absichten Roms billige, habe ich nie verheimlicht, jetzt aber zu vermuten, ich hätte mich zu so einer Handlungsweise hergegeben …«
Schwester Fidelma hob die Hand und gebot seinem Redefluss Einhalt.
»Immerhin wäre Ailill Colmáns natürlicher Verbündeter. Falls Colmán das Schwert entwendet hat, warum sollte er dann Ailill beschuldigen und damit vielleicht alle diskreditieren, die für die Sache Roms eintreten? Eigentlich hätte er doch alles ihm Mögliche tun müssen, Ailill beizustehen, damit der als tánaiste, als Thronfolger, sofort Anspruch auf den Herrschersitz geltend machen kann, sollten Unruhen ausbrechen, weil Sechnussach das heilige Schwert nicht vorweisen kann.«
»Was bringst du da vor?«, fragte Sechnussach, der Mühe hatte, Fidelmas Beweisführung zu folgen.
Sie blickte ihn mit ihren grünen Augen unverwandt an und erklärte ohne jede Hast: »In diesem Gespinst politischer Intrigen gibt es noch einen anderen Faktor, nämlich Cernach Mac Diarmuid. Sein Name wurde mir mehrfach genannt, und stets wurde betont, er sei ein glühender Anhänger Roms.«
Der junge Mann, der bislang unbeteiligt dagestanden und nur die Stirn gerunzelt hatte, schreckte auf. Eine Hand tastete an seine Seite, als suche er eine Waffe. Doch niemandem, ausgenommen die Leibwache des Hochkönigs, war es in Tara gestattet, Waffen zu tragen.
»Was willst du damit sagen?«
»Cernach wollte auf den Thron von Tara gelangen. Als Sohn eines der gemeinsam herrschenden Hochkönige meinte er, dass ihm das zustünde. Außerdem würde er am meisten davon profitieren, wenn sowohl Sechnussach als auch Ailill in Verruf kämen.«
»Verdammt …!« Wütend machte Cernach einen Schritt auf Fidelma zu. Einer der Krieger packte derb den Arm des jungen Burschen. Der suchte den Griff abzuschütteln, gab aber schließlich Ruhe.