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Es war Schwester Poitigéir, die Apothekerin, die der Äbtissin in heller Aufregung etwas ins Ohr flüsterte. Die Äbtissin verzog keine Miene. Mit einer Kopfbewegung fertigte sie die Schwester ab.

Inzwischen war das Getuschel in ein Stimmengewirr übergegangen. An die hundert Mitglieder der Gemeinschaft waren nach der abendlichen Vesper in den Saal geströmt, um das letzte Mahl des Tages einzunehmen.

Ruhe gebietend, hämmerte die Äbtissin mit ihrem irdenen Becher auf den Tisch. Sie war finster entschlossen, in ihrem Dankgebet fortzufahren.

»… sumus per Jesum Christum Dominum nostrum. Amen.«

Zwei Schwestern mühten sich, einen Mann – wie es Fidelma schien – aus dem Saal zu schaffen. Follaman, ein großer Mensch mit rötlichem Gesicht, dessen Aufgabe es war, sich um die männlichen Besucher im Gästehaus zu kümmern, kam ihnen zu Hilfe.

»Amen.« Rau hallte das Schlusswort durch den Raum, und die hundert Anwesenden glitten nahezu lautlos auf ihre Plätze. Normalerweise hätte jetzt mit dem Herumreichen von Brot die Mahlzeit beginnen sollen, doch die Äbtissin hob die Hand und gebot den Verantwortlichen, mit dem Austeilen zu warten.

Aufmerksames Schweigen. Sie räusperte sich. »Meine Kinder, wir müssen uns ein wenig gedulden. Unserem Gast ist plötzlich unwohl geworden, und wir müssen den Bericht unserer Apothekenschwester abwarten. Sie glaubt, er könnte etwas zu sich genommen haben, das ihm nicht bekommen ist.«

Sie begegnete dem augenblicklich ertönenden aufgeregten Gemurmel mit einer gebieterischen Bewegung ihrer schmalen, weißen Hand. »Während wir hier warten, übernimmt Schwester Murgain das Gebet …«

Ohne weitere Erklärung entschwebte die Äbtissin, und Schwester Murgain intonierte in einem Gemisch von Latein und Irisch mit schriller Stimme:

Regem regum rogamus

In nostris sermonibus

anacht Nóe a luchtlach

diluvii temporibus

König der Könige,

Wir beten zu dir,

Der du Noah beschützt hast

Zu Zeiten der Sintflut.

Schwester Fidelma beugte sich zu Schwester Luan, einem etwas einfältigen Geschöpf, das neben ihr saß, und fragte leise: »Wer war das, den sie da hinausgetragen haben?« Sie war zwei Wochen in Tara, dem Hauptort der fünf Königreiche von Irland und dem Sitz des Hochkönigs, gewesen und wusste nicht, was sich in der Zwischenzeit in ihrer Gemeinschaft ereignet hatte.

Schwester Luan wartete, bis die grelle Stimme von Schwester Murgain in ihrem Singsang

Regis regum rectissimi

prope est dies Domini

eine kleine Pause machte.

»Ein Gast, der im tech-óired wohnt. Sillán heißt er, aus Kilmatan.«

Alle frommen Häuser im Land hatten ein tech-óired auf ihrem Gelände, ein Gästehaus für Durchreisende oder auch für wichtige Besucher, denen man Gastfreundschaft erwies.

»Und wer ist dieser Sillán?«, forschte Schwester Fidelma weiter.

Sie spürte einen energischen Händedruck auf der Schulter und schreckte hoch. Gab es jetzt eine Rüge, weil sie während des Gebets gesprochen hatte? Sie sah in die vorwurfsvolle Miene von Schwester Ethne. Die schon ältere Nonne mit dem verhärmten, an einen Habicht erinnernden Gesicht und stets zusammengekniffenen Lippen war bei den jüngeren Mitgliedern der Schwesternschaft gefürchtet. Wenn sie einen anschaute, hatte man das Gefühl, ihre fahlen, leblosen Augen würden durch einen hindurch sehen. Es hieß, sie wäre so alt, dass sie schon im Dienste Christi stand, als die heilige Brigid vor einem Jahrhundert hierher gekommen war, um eben an dieser Stelle die erste Abtei für Frauen im Land zu begründen. Der Name Kildare, Kirche an der Eiche, leitete sich von jenem Kirchlein her, das im Schatten der großen Eiche errichtet wurde. Schwester Ethne war die bean-tigh, die Hausverwalterin, in deren Verantwortung die alltäglichen Belange der Schwesternschaft lagen.

»Die Äbtissin wünscht dich unverzüglich in ihren Räumlichkeiten zu sehen«, erklärte Schwester Ethne und schniefte. Es war eine dumme Angewohnheit von ihr, jede Äußerung mit einem Schniefer zu begleiten.

Leicht verwundert stand Schwester Fidelma auf und verließ mit der älteren Nonne den Saal. Trotz der gesenkten Köpfe und des beflissenen frommen Gesangs verfolgten alle Schwestern neugierig das Zwischenspiel.

Die Äbtissin Ita von Kildare saß in dem Raum, der ihr als Arbeitszimmer diente, an einem langen Eichentisch. Ihr Gesichtsausdruck war gefasst und entschlossen. Sie war eine immer noch gutaussehende Frau in den Fünfzigern, gebieterisch, mit bernsteinfarbenen Augen, in denen sonst eine verhaltene Fröhlichkeit blitzte. Davon war jetzt in dem flackernden Licht von zwei großen Bienenwachskerzen, die das dunkle Gemach spärlich erleuchteten, kaum etwas zu erkennen. Der Duft von Hyazinthen und Narzissen verlieh dem Raum eine angenehme Note.

»Komm herein, Schwester Fidelma. Hattest du eine erfolgreiche Reise nach Tara?«

»Ja, Ehrwürdige Mutter«, erwiderte das Mädchen und leistete der Aufforderung Folge. Sie wurde gewahr, dass hinter ihr auch Schwester Ethne das Zimmer betreten, die Tür von innen geschlossen hatte und mit züchtig verschränkten Armen dort stehen geblieben war. Ruhig wartete sie, während die Äbtissin sich zunächst zu sammeln schien, sich dann aber unvermittelt von einem halben Dutzend kleiner Steine, die auf dem Tisch lagen, ablenken ließ. Mit einer um Verständnis bittenden Geste stand die Äbtissin auf, sammelte die Steine ein und legte sie in ein Behältnis. Dann wandte sie sich um und nahm mit einem verlegenen Lächeln wieder Platz.

»Steine. Hab sie gesammelt. Aber solch eine Unordnung auf dem Tisch kann ich nicht dulden«, fühlte sie sich bemüßigt zu erklären. Sie nagte an den Lippen, wusste nicht, wie beginnen und kam dann ohne Überleitung zur Sache.

»Warst du im Speisesaal?«

»Ja. Ich war gerade nach Kildare zurückgekehrt.«

»Da ist etwas passiert, was für unsere Gemeinschaft besorgniserregend ist. Unser Gast, Sillán aus Kilmantan, ist tot. Unsere Apothekenschwester sagt, es sei eine Vergiftung.«

Schwester Fidelma war bemüht, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen.

»Vergiftet? Rein zufällig?«

»Das wissen wir nicht. Die Apothekenschwester untersucht gerade das Essen im Speisesaal. Deshalb habe ich untersagt, mit der Mahlzeit zu beginnen.«

Schwester Fidelma zog die Stirn in Falten.

»Muss ich daraus entnehmen, dass dieser Sillán zu essen begonnen hat, ehe du das Dankgebet beendet hattest, Ehrwürdige Mutter? Du wirst dich erinnern, dass er vor Schmerz aufschrie und zusammenbrach, während du noch am Sprechen warst.«

Ihre Augen wurden etwas größer, und sie nickte.

»Man rühmt zu Recht deine Wahrnehmungsgabe und deine Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, Fidelma. Nur gut, dass wir in unserer Gemeinschaft jemand haben, der sich in solchen Fragen und in der Rechtsprechung der Brehons auskennt. Genau deshalb habe ich dich holen lassen. Ich weiß, du bist gerade erst von deiner Reise zurück und wirst müde sein. Aber das hier lässt keinen Aufschub zu. Ich möchte, dass du unverzüglich die Ermittlungen zu Silláns Tod aufnimmst. Die Angelegenheit muss so rasch wie möglich aufgeklärt werden.«

»Warum so rasch, Ehrwürdige Mutter?«

»Sillán war ein wichtiger Mann. Er hat sich in unserer Umgebung auf ausdrücklichen Wunsch des Uí Failgi von Ráith Imgain aufgehalten.«

Schwester Fidelma wusste, was das bedeutete.

Kildare lag im Gebiet des Kleinkönigtums der Uí Failgi. Der Sitz der Könige der Uí Failgi war die Burg Ráith Imgain, nordwestlich von Kildare am Rande der Einöde gelegen, die unter dem Namen »Moor von Aillín« bekannt war. Gleich mehrere Fragen gingen ihr durch den Kopf, aber sie hielt den Mund. Fragen würde man später stellen können. Es war klar, dass die Äbtissin darauf bedacht war, jegliche Feindseligkeit mit Congall, dem Kleinkönig, den man kurz und bündig nach seinem Stamm Uí Failgi nannte, zu vermeiden. Der Gesetzgebung der Brehons zufolge überließ nämlich der Kleinkönig mit seiner Ratsversammlung den frommen Schwestern von Kildare das Land, auf dem sie lebten, und konnte es ihnen jederzeit entziehen. Grundsätzlich wurde den Kirchen Grund und Boden von den Clanversammlungen zugesprochen, denn so etwas wie privates Eigentum gab es im Königreich von Irland nicht. Das Land wurde von den Ratsversammlungen, die die Geschicke der Stämme und Königreiche lenkten, aufgeteilt und vergeben.