»Eine außergewöhnliche Anhörung?« Fidelma war bislang nichts von Ungereimtheiten in diesem Zusammenhang zu Ohren gekommen. Sie riss sich von der Grabstätte los und widmete sich Colmán.
»Weiß der Mann Genaueres, was gegen Fiacc vorliegt?«
»Nur, dass es etwas mit Amtsvergehen zu tun hat. Die Einzelheiten sind allein dem Obersten Richter bekannt.«
»Hat man Étromma vom Tod ihres Mannes in Kenntnis gesetzt?«
»Ja, das habe ich getan.«
»Dann gehe ich am besten gleich zu ihr.«
»Muss das sein? Sie wird mit sich zu tun haben. Wäre es morgen früh nicht besser?«
»Wenn ich das Rätsel lösen soll, muss ich sie jetzt sehen.«
»Wie du meinst …« Er machte eine hilflose Geste mit den Händen und fügte sich. Dann wies er auf die Grabstätte. »Wäre es nicht angebracht …«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Garbh fiel ihm ins Wort. »Sollten wir nicht den Leichnam des Mannes da rausschaffen, damit ich die Grabstätte wieder verschließen kann?«
»Im Augenblick noch nicht«, befand Fidelma. »Stell einen Wachtposten davor auf, Irél. Alles bleibt so, wie es ist, bis ich etwas anderes anordne. Ich denke, ich habe das Rätsel noch vor Mitternacht gelöst. Dann kann die Gruft verschlossen werden.«
Sie wandte sich zum Gehen und schritt langsam und in Gedanken versunken durch die Gräberreihen der Hochkönige. Sie blieb einen Moment stehen, um auf Abt Colmán zu warten, der Irél noch letzte Anweisungen gab. Ein Frösteln überkam sie, als sie merkte, dass sie das gähnende Loch des frisch ausgehobenen Grabs vor sich hatte. Aber da kam auch schon Colmán angekeucht, und gemeinsam strebten sie den Lichtern der Palastbauten zu.
Für die Frau eines Richters in den Fünfzigern war Étromma mit ihren höchstens achtzehn Jahren unwahrscheinlich jung. Kerzengerade und gefasst saß sie da und schien nicht im mindesten bekümmert oder verzweifelt. Mit kalten blauen Augen sah sie Fidelma feindselig an. Die Lippen waren zu einem dünnen Strich aufeinandergepresst. In einem Mundwinkel zuckte es etwas, das war aber auch alles an Regung in ihrem Gesicht.
»Ich war im Begriff, mich von Fiacc scheiden zu lassen. Alles deutete darauf hin, dass man ihm untersagen würde, weiterhin als Richter tätig zu sein, und er hatte kein Geld«, erklärte sie ungerührt auf eine Frage, die Fidelma ihr gestellt hatte.
»Was das eine mit dem anderen zu tun hat, will mir nicht recht in den Kopf«, merkte Letztere an. Fidelma saß ihr gegenüber, während Colmán mit zwiespältigen Gefühlen in der Nähe des Feuers stehen geblieben war.
»Ich habe nicht die Absicht, mein Leben in Armut zu verbringen. Wir hatten uns darauf verständigt. Fiacc war ein alter Mann. Ich habe ihn nur geheiratet, damit er mich versorgt. Er wusste das.«
»Und Liebe spielte gar keine Rolle?«, fragte Fidelma vorsichtig. »Hast du nichts für ihn empfunden?«
Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie ein Lächeln, verzog zumindest den Mund. »Was heißt Liebe? Was bringt das? Bürgt Liebe für Wohlstand?«
Fidelma seufzte kaum merklich.
»Warum drohte Fiacc der Entzug seiner Berechtigung, den Beruf als Richter auszuüben?«
»Im letzten Jahr hat er eine Reihe falscher Urteile gefällt. Wie du weißt, war er Richter des Stammes der Ardgal. Nach den vielen Fehlurteilen vertrauten ihm die Leute nicht mehr. Die fortlaufende Zahlung der Entschädigungssummen hatte ihn mittellos gemacht.«
Für jeden Fall, den ein Richter vor Gericht verhandelte, musste er fünf séds – das entsprach fünf Unzen Silber – als Sicherheit hinterlegen für ein mögliches Fehlurteil. Fühlte sich ein Angeklagter falsch behandelt, konnte er sich an höhere Richter wenden, und die mussten – mindestens zu dritt – die Sachlage prüfen. Kamen sie zu der Auffassung, dass ein Fehlurteil vorlag, wurde die Sicherheitssumme einbehalten, und der betroffene Richter hatte eine weitere Entschädigung von einem cumal zu zahlen, was dem Wert von drei séds in Silber entsprach. Selbstverständlich waren diese Regelungen Fidelma bekannt.
»Wie viele Fehlurteile hatte denn dein Mann im Laufe des Jahres getroffen, dass er mittellos dastand?«
»Meines Wissens waren es elf.«
Das übertraf Fidelmas Erwartungen. Achtundachtzig Silberséds, mit denen man an die dreißig Milchkühe erstehen konnte, waren eine erschreckende Summe, um sie innerhalb eines Jahres abzuzahlen. Kein Wunder, wenn davon die Rede war, Fiacc seines Amtes zu entheben.
»Der Oberste Richter hatte ihn zur Vernehmung geladen. Er sollte Rede und Antwort stehen, weil er sich wegen der Abzahlung verschuldet hatte, und sollte erklären, wie er seine Arbeit als Richter sah.«
»Heißt das, er hatte sich Geld geliehen, um zahlungsfähig zu sein?«
»Eben deshalb wollte ich mich von ihm scheiden lassen.«
Einen Richter, der so in Not geraten war, dass er zu Geldverleihern ging, würde man mit Fug und Recht seines Amtes verweisen müssen, es sei denn, er konnte triftige Gründe für sein Verhalten vorbringen. Schwerlich nachzuvollziehen, wie sich Fiacc da hatte herausretten wollen. In Fidelma arbeitete es.
»Ich kann mir vorstellen, wie sehr deinen Mann die Lage, in die er sich gebracht hatte, bedrückte.«
»Bedrückte? Dass ich nicht lache! Bedrückt war er weiß Gott nicht. Zumindest zuletzt nicht.«
»Nicht bedrückt?« Fidelma ließ nicht locker.
»Er wollte mich von der Scheidung abhalten, behauptete, es wäre nur ein zeitweiliges Problem, bettelarm wäre er nicht. Er gaukelte mir vor, er hätte Geld in Aussicht, und dann wäre er reich genug, um auch ohne Arbeit leben zu können, falls man ihn nicht mehr als Richter haben wolle.«
»Hat er gesagt, woher das Geld kommen würde? Wie dachte er denn, die Schulden abzuzahlen, woher das Geld zu nehmen, um den Rest seines Lebens gut und bequem verbringen zu können?«
»Er hat nichts weiter dazu gesagt. Es war mir auch egal. Entweder er hat gelogen oder er war einfach närrisch. Wie er mit der Geschichte klarkam, war seine Sache. Er wusste, ich würde ihn verlassen, wenn er mich belog, er sein Richteramt hergeben musste und ohne jeden Pfennig dastand. So einfach war das. Ich war nicht gewillt, unter solchen Bedingungen bei ihm zu bleiben.«
Fidelma war darauf bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr die kalte, berechnende Art der jungen Frau missfiel.
»Es machte dich kein bisschen neugierig, wie dein Mann plötzlich zu Geld kommen wollte?«
»Für mich stand fest, dass das sowieso nicht klappen würde. Er war ein Lügner.«
»Ab wann zeigte er sich so zuversichtlich, bald genug Geld zu haben, um seine Schulden zu bezahlen?«
Die junge Frau überlegte.
»Das mit der Prahlerei, er würde die Sache in den Griff kriegen, ging vor ein, zwei Tagen los. Doch, erst gestern Morgen war’s.«
»Du meinst, bis gestern Morgen war er sich da nicht so sicher?«
»Ich würde sagen, ja.«
»Wann seid ihr beide hier in Tara angekommen?«
»Vor vier Tagen.«
»Und die ganze Zeit war Fiacc mit sich und seinen Gedanken beschäftigt? Erst gestern Morgen schlug plötzlich seine Stimmung um?«
»Jedenfalls kam es mir so vor.«
»Hat er sich hier mit anderen getroffen?«
Étromma zuckte mit den Achseln. »Er war bei vielen bekannt. Aber mit wem er Umgang hatte, kann ich nicht sagen.«
»Mir geht es einfach darum, ob es irgendeinen Menschen hier in Tara gab, mit dem er die Zeit verbrachte. Jemand, den man als einen engen Freund oder Vertrauten bezeichnen könnte.«
»Nicht, dass ich wüsste. Er war ein Einzelgänger. Ich glaube nicht, dass er sich mit irgendjemand hier getroffen hat. Er ist mehr für sich geblieben. Ich weiß nur, dass es ihn immer wieder zu den Grabmalen der Hochkönige zog und er dort spazieren ging. Ich dachte schon, er würde altersschwach und rührselig. Aber, wie gesagt, als er gestern zurückkam, grinste er wie ein Kater, der einen Napf Sahne geschleckt hat, und beteuerte, alles würde gut werden. Mir war klar, dass er log, umstimmen konnte er mich nicht.«