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Einige Augenblicke herrschte eisiges Schweigen. Es glich der Stille, wie sie einem Erdbeben vorausgeht. Der Gesichtsausdruck der Äbtissin wurde ein anderer, wechselte von Zorn in Traurigkeit. Sie war es, die den Blick vor der Jüngeren senkte.

»Meine Hand hat Sillán nicht das Gift verabreicht. Aber ich gestehe, dass mir ein Stein vom Herzen fiel, als ich von der Tat erfuhr.«

Einzig die Stille der Zelle umgab sie. Vollständig bekleidet, mit den Händen unter dem Kopf, lag Schwester Fidelma auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit. Die Kerze hatte sie gelöscht, und so unterschied sie nur schemenhaft Hell und Dunkel, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Ihre Gedanken kreisten um den mysteriösen Tod von Sillán.

Sie versuchte zu ordnen, was sie in den letzten Stunden erfahren hatte. Eine unbestimmte Ahnung drängte sich ihr auf, ließ sich aber nicht fassen. So viel stand fest: Man hatte Sillán umgebracht, weil das, was er wusste, der Außenwelt verborgen bleiben sollte. Nur sagte ihr etwas im Innern, dass es tatsächlich besser war, wenn Silláns Entdeckung geheim blieb.

Das Gesetz aber war nicht für solche Überlegungen geschrieben, und als dálaigh bei Gericht war sie dem Gesetz verpflichtet. Wiederum war es von Menschen gemacht. Ein zu enges Festhalten am Gesetz konnte auch größere Ungerechtigkeit nach sich ziehen. Rechtsprechung folgte blind den vorgeschriebenen Regeln, während in einer idealen Welt Gerechtigkeit einen offenen Blick für beide Seiten haben musste – für Leid und wirklich Böses.

Schwester Fidelma befand sich in einem moralischen Dilemma, und die quälenden Gedanken begleiteten sie in einen unruhigen Schlaf.

Jemand rüttelte sie am Arm. Das war das Erste, dessen sie gewahr wurde, erst dann hörte sie das Angelus-Läuten.

Aus den verschwommenen Umrissen schälte sich das blasse, habichtsähnliche Gesicht von Schwester Ethne.

»Rasch, Schwester, komm rasch. Noch ein Toter.«

Fidelma schnellte hoch und sah Schwester Ethne ungläubig an. Bis zur Morgendämmerung war es noch eine Stunde, und ihre Besucherin hatte vorsorglich die Kerze angezündet.

»Noch ein Toter? Wer?«

»Follaman.«

»Wie?« Fidelma sprang aus dem Bett.

»Wie gehabt. Gift. Rasch, du musst in die tech-óired kommen.«

Follaman, der timthirig des Klosters, lag auf dem Rücken, das Gesicht auch im Tod noch schmerzverzerrt. Der eine Arm war zur Seite gestreckt, und folgte man der Richtung der geöffneten Hand, sah man auf dem Fußboden verstreut die Scherben eines irdenen Bechers. Ein dunkler Fleck auf dem Steinfußboden deutete auf vergossene Flüssigkeit hin.

Die Apothekenschwester, die man als Erste gerufen hatte, war bereits in der Zelle und hatte den Leichnam untersucht.

»In dem Becher war Schierling, Schwester Fidelma«, berichtete sie unter heftigem Auf und Ab ihres Kopfes. »Genau wie Sillán hat auch er das Gift getrunken, nur dass er es nachts zu sich nahm und niemand seinen Todesschrei gehört hat.«

Verstört prägte sich Fidelma den Anblick ein und sagte zu Schwester Ethne: »Ich muss mit der Äbtissin sprechen. Bitte sorge dafür, dass uns niemand stört.«

Äbtissin Ita stand am Fenster ihres Gemachs und betrachtete die Farbenpracht von Rot, Gelb und Orange der aufgehenden Sonne.

Als Schwester Fidelma eintrat, drehte sie sich nur leicht zur Tür, um sich zu vergewissern, wer es war, wandte sich wieder um und öffnete das Fenster. Das leuchtende Morgenlicht durchflutete den Raum und verlieh ihm einen milden goldenen Glanz.

»Nein, Fidelma«, ergriff sie das Wort, noch ehe Fidelma etwas sagen konnte. »Ich habe Follaman nicht vergiftet.«

»Ich weiß, dass du es nicht warst, Ehrwürdige Mutter.«

Äbtissin Ita wandte sich zu ihr und starrte sie überrascht an. Mit einer Handbewegung forderte sie Fidelma zum Platznehmen auf und setzte sich selbst. Sie sah blass und übernächtigt aus.

»Du weißt also, wer der Täter ist? Du weißt, wie Sillán und Follaman zu Tode gekommen sind?«

Schwester Fidelma nickte.

»In der vergangenen Nacht habe ich schwer mit mir gerungen, Ehrwürdige Mutter, wem ich als dálaigh zu dienen habe – dem Gesetz oder der Gerechtigkeit.«

»Aber ist das nicht ein und dasselbe, Fidelma?«

»Manchmal ja und manchmal nein.« Sie lächelte schmerzlich. »In diesem Fall geht beides auseinander.«

»Nämlich?«

»Sillán wurde unrechtmäßig getötet. Das ist eindeutig. Er wurde getötet, weil sein Wissen von der Existenz einer Goldmine unter den ehrwürdigen Gebäuden hier verschwiegen werden sollte. War die Person, die ihn umgebracht hat, im Recht oder im Unrecht? Welche Maßstäbe sollen wir anlegen, um das zu beurteilen? Einem Menschen das Leben zu nehmen ist unserem Gesetz nach unrechtmäßig. Wenn aber Sillán sein Wissen preisgegeben und man unsere Gemeinschaft daraufhin von hier vertrieben hätte oder wenn es sogar zu einem Krieg zwischen den um diesen Flecken Erde ringenden Kräften gekommen wäre, wäre das dann Gerechtigkeit gewesen? Vielleicht gibt es doch so etwas wie eine natürliche Gerechtigkeit, die über den Dingen steht?«

»Ich kann dir durchaus folgen, Fidelma«, erwiderte die Äbtissin. »Der Tod eines Unschuldigen kann den Tod zahlloser anderer Menschen verhindern.«

»Aber haben wir das Recht, das zu entscheiden? Ist das nicht etwas, was wir Gott überlassen sollten?«

»Manchmal zeigt uns Gott Mittel und Wege, seinen Willen in die Tat umzusetzen.«

Schwester Fidelma sah die Äbtissin fest an. »Es gibt jetzt nur zwei Menschen, die von Silláns Entdeckung wissen.«

»Zwei?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch.

»Die eine bin ich, und du, Ehrwürdige Mutter, bist die andere.«

Die Äbtissin runzelte die Stirn. »Derjenige, der Follaman getötet hat, muss es doch auch wissen.«

»Gewusst haben«, verbesserte Fidelma sie vorsichtig.

»Das musst du mir erklären.«

»Follaman hat den Schierling beigemischt und somit Sillán getötet.«

Die Äbtissin biss sich auf die Lippen.

»Weshalb hätte Follaman so etwas tun sollen?«

»Aus dem gleichen Grund, über den wir eben gesprochen haben, um zu verhindern, dass Sillán über die Goldader etwas verlauten lassen kann.«

»So weit, so gut. Aber wieso Follaman? Er war ein einfacher, rechtschaffener Mensch«, stellte die Äbtissin fest.

»Rechtschaffen und treu ergeben. Hat er nicht seit seiner Jugend hier im Kloster als Verwalter des Gästehauses gearbeitet? Er fühlte sich mit dem Haus hier ebenso verbunden wie jeder andere unserer Gemeinschaft. Auch wenn er kein frommer Bruder war, so war er doch einer der Unseren.«

»Wie konnte er von der Sache wissen?«

»Er hat deinen Streit mit Sillán mit angehört. Vermutlich hat er absichtlich gelauscht. Er wusste oder ahnte, welchen Beruf Sillán ausübte. Vielleicht ist er ihm auf seinen Erkundungen auch gefolgt. Ob er es getan hat oder ob nicht, spielt jetzt auch keine Rolle. Als Sillán gestern Nachmittag zurückkam und ihm eröffnete, er würde am nächsten Morgen nach Ráith Imgain zurückkehren, schlussfolgerte Follaman, dass er auf einen Fund gestoßen sein müsste. Als Sillán zu dir ging, ist er ihm wahrscheinlich gefolgt und hat das Gespräch zwischen euch belauscht.

Da du nicht gegen Gottes oder die von Menschen geschaffenen Gesetze verstoßen konntest, glaubte er auf seine Weise eine natürliche Gerechtigkeit walten zu lassen. Er entwendete aus der Apotheke den Krug mit dem giftigen Schierling, und als Sillán um ein Getränk bat, mischte er etwas davon bei. Von der nötigen Menge für eine entsprechende Wirkung hatte er keine Ahnung, und deshalb spürte Sillán auch nichts, sondern erst später, als die Glocke zur Abendmahlzeit geläutet hatte.«