»Und wie ist Fiacc zu Tode gekommen?«, forschte Irél, der versuchte, den Verlauf der Geschichte zu erfassen.
»Vielleicht hat ihn der Fluch des Tigernmas niedergestreckt«, mutmaßte Tressach angsterfüllt.
»Fiacc starb, weil Garbh für sich entschieden hatte, den Schatz, zu dem er so unverhofft kam, nicht mit einem anderen zu teilen. Als er begriffen hatte, wie vergleichsweise mühelos man zu Reichtum gelangen konnte, wollte er alles für sich. Er musste nur den richtigen Moment abpassen. Er und Fiacc nahmen die Beute an sich und verwischten die Spuren. Als Richter hatte Fiacc alles peinlich genau durchdacht. Unvorhergesehene Ereignisse könnten ja mal dazu führen, dass man das Grab öffnete, also war es in seinen Augen erforderlich, den Staub, den sie aufgewirbelt hatten, wegzufegen, um keinerlei Spuren zu hinterlassen.«
Irél stöhnte auf. Auch darauf hatte ihn Fidelma hingewiesen, und er hatte ihre Bemerkung als unwichtig abgetan. »Weshalb Fiacc sterben musste, wissen wir jetzt. Aber wie ist er umgebracht worden?«
»Nachdem die Beute herausgeschafft und die Spuren getilgt worden waren, nahm Garbh den fé, den Messstock für Gräber, und stach ihn mit Gewalt Fiacc in den Rücken. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verließ er die Grabkammer, verschloss den Zugang und begab sich zurück in das von ihm geschaufelte Grab, füllte vielleicht auch den Tunnel gleich auf. Das werden wir später noch sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass er das Raubgut in seiner Hütte oder irgendwo in deren Nähe versteckt hat.«
Unruhig trat Garbh von einem Fuß auf den anderen, und Fidelma deutete das als Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte.
»Ja, Irél, du dürftest den Grabschatz in oder bei Garbhs Hütte finden.«
»Fiacc war doch aber nicht auf der Stelle tot«, gab Tressach zu bedenken. »Garbh hat ihn verwundet liegenlassen und ihn eingesperrt.«
»Damit hat Garbh nicht gerechnet. Er glaubte, Fiacc getötet zu haben. Fiacc war schwer verletzt und verlor das Bewusstsein. Er lag im Sterben, kam aber noch einmal zu sich und begriff, dass er in der Gruft eingeschlossen war. Mit Schrecken ging ihm auf, dass er bei lebendigem Leibe begraben war. Angsterfüllt schrie er los, und das hast du im Vorbeigehen gehört, Tressach. Dann hat er sich bis zu den Türen geschleppt, immer noch schreiend. Dass Tressach ihn gehört hatte, konnte er nicht wissen, verzweifelt kratzte er mit den bloßen Händen an den Türen herum, bis der Tod eintrat.«
»Ich habe ihn nicht töten wollen. Es geschah im Streit«, sagte Garbh langsam und gab damit seine Schuld zu. Bislang hatte er geschwiegen. »Fiacc wollte den größeren Teil des Schatzes für sich haben und mir nur etwas abgeben. Als ich auf die mir zustehende Hälfte bestand, fiel er über mich her. Er griff sich das alte Grabmaß und schlug zu. Ich setzte mich zur Wehr, und in dem Kampf hat es ihn erwischt. Ein Mord war das nicht. Dafür kann man mich nicht bestrafen.«
»O nein, Garbh«, widersprach Fidelma. »Du hast von Anfang an vorgehabt, Fiacc zu töten. Als Fiacc dir sein Vorhaben erklärt hatte, stand für dich fest, du würdest den gesamten Grabschatz an dich bringen. Solange du ihn brauchtest, um in die Gruft vorzudringen und die Grabbeigaben herauszuholen, hast du ihn als Helfershelfer benutzt. Du hattest dir fest vorgenommen, du würdest ihn töten und im Grabmal zurücklassen, in der Hoffnung, niemand würde es jemals wieder öffnen. Zwei Fehler sind dir zum Verhängnis geworden: du hast dich nicht vergewissert, ob er wirklich tot ist, und dazu kommt deine Eigenliebe.«
»Dass es mein Vorsatz war, Fiacc zu töten, kannst du nicht beweisen!«, schrie Garbh. »Hätte ich das wirklich gewollt, würde ich eine Waffe bei mir gehabt haben. Fiacc ist aber durch ein altes Grabmaß zu Tode gekommen, das dort herumlag. Selbst Irél wird dir das bestätigen.«
Zögernd nickte Irél. »Das könnte stimmen, Schwester. Es war ein fé, der ihm im Rücken steckte. Du hast es selbst gesehen. Und die eingeritzten Zeichen waren in Ogham. Ich kann die alte Schrift lesen. ›Mögen die Götter uns behüten‹ stand da. Dass es die Götter hieß und nicht Gott, deutet auf das alte heidnische Grab. Der Stab muss folglich dort gelegen haben.«
»Du irrst. Das Grabmaß hat Garbh selbst angefertigt.« Sie zeigte auf den Tisch. Sie hatte den fé, den sie aus der Gruft mitgenommen hatte, dort hingelegt. »Mit diesem fé wurde nicht das Grab des Tigernmas vermessen. Schau genau hin. Das Holz ist frisch. Die eingekerbten Schriftzeichen sind neu. Sieh dir die Schnittstellen an, und du wirst noch Spuren von dem Saft erkennen, der aus dem Mark austritt und gerade erst trocknet. Das Schnitzwerk ist noch keine vierundzwanzig Stunden alt.«
Colmán hatte nach dem Stock gelangt, nicht ohne das Knie zu beugen, um keinen Schaden zu nehmen, wenn er ein Unglück bringendes Werkzeug in Händen hielt, und betrachtete es näher.
»Das Espenholz ist noch frisch und voller Saft«, bestätigte er.
»Garbh hat auch die Spitze vorn angebrannt, um sie härter zu machen. So konnte er wie mit einem Dolch zustoßen. Erst dann verführte ihn seine Eigenliebe, noch etwas in Ogham hineinzuschnitzen. Ihm war aufgefallen, wie genau Fiacc alle Einzelheiten geplant hatte, und wollte dem noch eins draufsetzen. Sollte es einmal dazu kommen, dass man das Grab öffnete, würde man Fiacc mit einem alten heidnischen fé im Herzen finden. Garbh wollte besonders klug sein und hat sich damit selber hineingeritten. Dass der fé frisch geschnitzt ist, war leicht zu erkennen, und beweist, dass es sich um einen vorsätzlichen Mord handelt. Garbh hat die Mordwaffe angefertigt, noch ehe er die Grabstätte betrat. Es gab keinen unvorhergesehenen Streit.«
Garbh schwieg. Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen.
»Du kannst ihn jetzt abführen«, sagte Fidelma abschließend zu Irél. »Auch kannst du veranlassen, dass das Grab wieder geschlossen wird, aber erst, nachdem die Grabbeigaben zurückgelegt worden sind.« Und mit einem schelmischen Schmunzeln fügte sie hinzu: »Es würde uns schlecht bekommen, ausgerechnet in der heutigen Nacht den Geist des Tigernmas herauszufordern, weil wir uns an seinem Gold und Silber vergehen, oder?«
Abt Colmán schenkte noch etwas angewärmten Wein ein und reichte Fidelma den Becher. »Fürwahr, eine traurige Geschichte.« Er seufzte. »Ein habgieriger Totengräber und ein verderbter Richter. Wie lässt sich solche Schlechtigkeit der Menschen erklären?«
»Du vergisst in deiner Aufzählung Étromma«, meinte Fidelma. »Sie war der Auslöser allen Übels. Ihretwegen brauchte Fiacc so dringend Geld, und ihretwegen kam die ganze Geschichte ins Rollen. Auf ihre fehlende Liebe, ihren Eigennutz und vor allen Dingen auf ihre Raffgier ist diese menschliche Tragödie zurückzuführen. Wie heißt es doch in der Heiligen Schrift im ersten Brief an Timotheus – radix omnium malorum est cupiditas.«
»Die Wurzel aller Übel ist die Gier«, übersetzte Abt Colmán und neigte zustimmend das Haupt.
GIFT IM VERSÖHNUNGSTRUNK
Man hatte das Mahl in kühler Höflichkeit eingenommen. Unter den Speisenden herrschte eine frostige und angespannte Stimmung. Es waren sieben an der Zahl, die Nechtan, der Stammesfürst der Múscraige, zu Tisch geladen hatte. Schwester Fidelma, die als Letzte den Saal betreten hatte, war die Unglückszahl auf den ersten Blick aufgefallen. Sie hatte sich etwas verspätet, weil sie nicht auf den Genuss eines heißen Bades vor dem Essen hatte verzichten wollen. Man hatte an einem runden Tisch Platz genommen; zusammen mit Nechtan waren sie acht, auch keine gute Zahl, wie Fidelma mit Unbehagen fand. Natürlich schalt sie sich insgeheim, abergläubischen Gedanken nachzuhängen, führte es aber auf den Umstand zurück, dass über allen eine gedrückte Stimmung lag.