Выбрать главу

Alle, wie sie da saßen, hatten Grund, Nechtan zu hassen.

Schwester Fidelma gehörte nicht zu denen, die leichtfertig mit Urteilen umgingen, denn als Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche und auch als Nonne wählte sie wertende Begriffe mit Bedacht und hütete sich vor Fehleinschätzungen. Trotzdem fiel ihr für die Empfindung, die einem bei Nechtans Anblick überkam, kein passenderes Wort ein als »widerwärtig«.

Gleich den anderen Gästen hatte auch Fidelma guten Grund, den Anführer des Stammes der Múscraige nicht ausstehen zu können. Weshalb aber hatte sie dann die Einladung zu dem absonderlichen Festmahl angenommen? Weshalb war auch keiner der anderen Gäste einer solchen Zusammenkunft ferngeblieben?

Sie konnte die Frage nur für die eigene Person beantworten. Wäre sie nicht zufällig in Nechtans Stammesgebiet unterwegs gewesen, um sich einer Aufgabe bei den Sliabh Luachra zu entledigen, wohin sie der dortige Stammesfürst gerufen hatte, hätte sie die Einladung abgelehnt. Sie sollte über einen Diebstahl befinden; da sie das Rechtswesen studiert und den Grad eines anruth erlangt hatte, den zweithöchsten in der Gesetzeskunde möglichen, besaß sie sogar die Befugnis, Rechtsstreitigkeiten als Richterin zu entscheiden. In diesem Falle hatte sich herausgestellt, dass Daolgar, Fürst der Sliabh Luachra, der ebenfalls seine Gründe hatte, Nechtan zu grollen, auch zu dem Essen geladen war, und so waren sie überein gekommen, gemeinsam zu Nechtans Burg zu ziehen.

Es gab aber noch etwas, das Fidelma bewogen hatte, der Einladung halbherzig Folge zu leisten, und das war die Sprache, in der sie verfasst war. In schmeichlerischen Worten bat Nechtan um Entschuldigung für die Schmach, die er ihr einst angetan hatte. Ihn reue sein Fehlverhalten, und da er erfahren hätte, dass sie ohnehin durch seine Lande reiste, würde er die Gelegenheit nutzen wollen, sie zu sich zu laden gleich anderen, denen er Unrecht zugefügt hätte. Sie alle wolle er um sich scharen, gemeinsam mit ihnen speisen und sie vor aller Ohren um Verzeihung bitten. Wortwahl und Formulierungen hatten sie betört, zudem wäre die Zurückweisung eines Feindes, der um Vergebung ersuchte, gegen die Lehren Christi gewesen. Hatte nicht der Apostel Lukas berichtet, was Christus seine Jünger lehrte: »Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen; segnet die, so euch verfluchen; bittet für die, so euch beleidigen. Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete auch den anderen dar …«

Wie wäre es um ihren Glauben bestellt, wenn sie sich nicht an das oberste Gebot hielt, das vorschrieb, einem jeden, der ihr Leid zugefügt hatte, zu vergeben?

Wie sie nun unter den Gästen saß, musste sie feststellen, dass sie nicht die Einzige war, die Groll gegen den Gastgeber hegte. Zwar hatte sie sich als Christin gemüht, Nechtans Verlangen nach Vergebung nachzukommen, aber den Blicken der um die Festtafel Versammelten, ihrer gestelzten und gezwungenen Unterhaltung, der eisigen Kälte, die in der Luft hing, war zu entnehmen, dass keiner von ihnen von dem Wunsch beseelt war, Nechtan großmütig zu verzeihen. Im Innern der Herzen schwelten andere Gedanken.

Das Mahl näherte sich dem Ende, und Nechtan erhob sich. Er war ein Mann in mittleren Jahren. Auf den ersten Blick hätte man ihn fast für einen fröhlichen und freundlichen Menschen halten können. Von der Statur her war er klein und rundlich, die Haut war rosig wie die eines Kindes, nur die Hängebacken störten ein wenig. Das lange, silbrig glänzende Haar trug er sorgfältig zurückgekämmt. Die Lippen waren schmal und von rötlich frischer Farbe. Die insgesamt angenehmen Züge ließen nichts von dem grausamen Gemüt vermuten, mit dem er seine Untergebenen beherrschte. Nur wenn man ihm in die stechend blauen Augen sah, bekam man die unerbittliche Härte des Mannes zu spüren. Es waren fahle, tote Augen, die Augen eines gefühllosen Menschen.

Nechtan bedeutete dem einzigen Bediensteten, der im Saal stand und den Gästen Wein eingeschenkt hatte, seinen Becher aus dem Krug auf dem Beistelltisch aufzufüllen. Der junge Mann kam der Anweisung nach und erklärte: »Der Wein geht zur Neige. Soll ich den Krug wieder füllen lassen?« Nechtan verneinte mit einem Kopfschütteln, entließ den Burschen mit einer raschen Handbewegung und sah sich mit seinen Gästen allein. Für die anderen kaum wahrnehmbar seufzte Fidelma gequält. Der Verlauf des Festmahls war schon peinlich genug gewesen, eine Rede von Nechtan konnte es nur noch schlimmer machen.

»Liebe Freunde«, begann er geradezu leutselig und blickte ohne innere Anteilnahme in die Runde. »Ich denke doch, ich darf euch so nennen. Seit langem hege ich den Wunsch, mit euch zusammenzukommen und jeden Einzelnen von euch um Verzeihung zu bitten wegen des Unrechts, das ich einem jeden angetan habe.«

Erwartungsvoll schaute er sich um, stieß aber auf eisiges Schweigen. Fidelma war die Einzige, die den Kopf ein wenig hob, um seinem leeren Blick zu begegnen. Alle anderen starrten auf die vor ihnen stehenden Teller.

»Ich bin euch heute Abend gewissermaßen ausgeliefert«, fuhr er fort und gab sich, als bemerkte er nicht die Ablehnung, die ihm entgegenschlug. »Ich habe mich an euch allen vergangen.«

Er wandte sich an den älteren, schweigenden und nervös wirkenden Mann zu seiner Linken, der die ganze Zeit an seinen Fingernägeln knabberte, eine Angewohnheit, die Fidelma widerlich fand. Unter den gehobenen Schichten galten wohlgeformte Hände mit schmalen Fingern als schön. Fingernägel wurden fein säuberlich rund geschnitten, und die meisten Frauen färbten sie auch leuchtend rot. Auf einen Mann in besserer Stellung mit ungepflegten Fingernägeln schaute man geringschätzig herab. Fidelma wusste, dass er Nechtans Leibarzt war, umso mehr nahm sie Anstoß an seinen unsauberen, vernachlässigten Händen.

Nechtan versuchte es mit einem Lächeln, es war eher eine Verzerrung der Lachmuskeln als der Ausdruck irgendwelcher Gefühle.

»Ich habe dir Unrecht getan, Gerróc, mein Arzt. Ich habe dich ständig um deine Bezahlung betrogen und dennoch deine Dienste in Anspruch genommen.«

Der Alte rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und meinte achselzuckend: »Du bist mein Stammesfürst.«

Nechtan verzog – fast ein wenig amüsiert ob der Antwort – das Gesicht und sprach nun die etwas füllige, aber immer noch gutaussehende Frau mittleren Alters an, die neben Gerróc saß. Sie war außer Fidelma die einzige Frau in der Runde.

»Du warst meine erste Frau, Ess. Ich habe mich von dir scheiden lassen, dich der Untreue bezichtigt und dich aus dem Haus gejagt. Dabei ging es mir nur darum, in den Armen einer jüngeren und hübscheren Frau zu liegen, in die ich mich verliebt hatte. Meine Anklage lautete auf Ehebruch, und damit habe ich dich zu Unrecht um deine Mitgift und deinen Erbanspruch betrogen. Insofern habe ich dich auch vor unserem Volk in Verruf gebracht.«

Ess saß mit steinerner Miene da, nur ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass sie seine Worte wahrgenommen hatte.

»Neben dir sitzt mein Sohn, unser Sohn Dathó«, fuhr Nechtan fort. »Indem ich deiner Mutter Unrecht getan habe, habe ich auch dir Schaden zugefügt, Dathó. Ich habe dir deinen rechtmäßigen Platz in unserem Stamm der Múscraige verwehrt.«

Dathó war ein schlanker junger Mann von etwa zwanzig Jahren mit ernstem Gesicht. Hasserfüllt blitzten seine Augen Nechtan an; er hatte die Augen seiner Mutter und nicht die grauen kalten Augen seines Vaters. Schon öffnete er den Mund, dem Vater harsche Worte entgegenzuschleudern, aber seine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück, sodass er nur verächtlich schniefte und herausfordernd das Kinn reckte, aber schwieg. Die beiden ließen erkennen, dass Nechtan weder von seinem Sohn noch von seiner ersten Frau Vergebung erwarten durfte.