Trotzdem schien Nechtan ungerührt ob ihrer Reaktionen, fast hatte es den Anschein, als würde er sie mit einer gewissen Befriedigung hinnehmen.
Einer der Gäste – er saß gegenüber Ess, und Fidelma kannte ihn als einen jungen Künstler namens Cuill – erhob sich, ging um den Tisch herum zum Weinkrug, der hinter Nechtan stand, füllte sich seinen Becher, leerte die Karaffe und kehrte zu seinem Platz zurück. Nechtan schenkte dem keine Beachtung, und auch Fidelma nahm es nur unbewusst wahr. Beharrlich ruhte ihr Blick auf Nechtan, und ihre lebhaften grünen Augen wichen seinen kalten nicht einen Augenblick lang aus. Nur die Hand bewegte sie ab und an, wenn sie versuchte, das widerspenstige rote Haar unter den Schleier zurückzuschieben.
»Und nun zu dir, Fidelma von Cashel, Schwester unseres Königs Colgú.« Er streckte die Arme aus, wie um seine Reue zu unterstreichen. »Als du im Gefolge des großen Brehon Morann, des obersten Richters der fünf Königreiche, hierherkamst, warst du eine junge Novizin. Ich war von deiner Jugend und Schönheit berauscht; welcher Mann wäre das nicht gewesen? Jedwede Gesetze der Gastfreundschaft missachtend, suchte ich dich nachts in deiner Kammer auf und wollte dich verführen.«
Empört warf sie den Kopf hoch; Röte schoss ihr in die Wangen bei dem Gedanken an das, was geschehen war.
»Verführen?« Eiskalt durchschnitt ihre Stimme den Raum. Der Begriff, den Nechtan benutzt hatte, war der Rechtssprache entlehnt, und sleth bedeutete versuchter Geschlechtsverkehr mit Hilfe von List. »Dein vergeblicher Versuch war wohl mehr ein forcor.«
Nechtan zuckte zusammen, und für einen kurzen Moment verzerrte sich sein Gesicht zu einer erzürnten Maske, nahm aber sogleich wieder den blassen, friedfertigen Ausdruck an. Forcor hieß so viel wie brutale Vergewaltigung und kam einem Gewaltverbrechen gleich. Hätte Fidelma sich nicht schon damals, jung wie sie war, im troid-sciathagid, der überlieferten Kampfkunst ohne Waffen, ausgezeichnet, wäre aus Nechtans unerbetener Zudringlichkeit leicht eine Vergewaltigung geworden. Nechtan hatte bei seinem nächtlichen Besuch bei Fidelma ein paar heftige blaue Flecken und dicke Beulen davongetragen und drei Tage das Bett hüten müssen. Jetzt neigte er das Haupt und gab sich zerknirscht.
»Es war falsch, gute Schwester«, sagte er, »ich kann lediglich mein Verhalten eingestehen und dich um Verzeihung bitten.«
Der Lehren ihres Glaubens eingedenk, kämpfte Fidelma einen inneren Kampf, konnte es aber nicht über sich bringen, auch nur das geringste Zeichen einer Vergebung erkennen zu lassen. Sie schwieg und starrte Nechtan mit unverhohlener Empörung an. In ihr festigte sich der Verdacht, dass Nechtan an diesem Abend ein böses Spiel mit ihnen trieb. Aber weshalb und mit welchem Ziel?
Hinter seiner Maske schien er sich still und heimlich zu amüsieren; mehr als ein verärgertes Schweigen hatte er wohl sowieso nicht von ihr erwartet.
Er hielt einen Augenblick inne, bevor er sich dem lebenslustigen, rothaarigen Mann zuwandte, der links neben ihr saß. Fidelma wusste, dass Daolgar von ungezügeltem Temperament war, ein Mensch, der mehr zum Handeln als zum Nachdenken neigte. Er konnte rasch beleidigt sein, aber ebenso gut auch rasch vergeben. Sie kannte ihn als warmherzig und großzügig.
»Daolgar, Stammesfürst der Sliabh Luachra und mein guter Nachbar«, sprach ihn Nechtan an, aber der ironische Unterton war nicht zu überhören. »Ich habe dir Unrecht zugefügt, indem ich die jungen Männer meines Clans immer wieder angestachelt habe, in dein Gebiet einzufallen und deine Leute zu schinden, um unsere eigenen Ländereien zu erweitern und eure Viehherden zu stehlen.«
Daolgar schnaubte wie ein Tier, laut und ärgerlich. Sein muskulöser Körper lauerte sprungbereit.
»Dass du das, was mein Volk hat ertragen müssen, zugibst, ist ein Schritt in die richtige Richtung zu einer möglichen Aussöhnung, Nechtan. Persönliche Feindschaft sollte einem Waffenstillstand zwischen uns nicht im Wege stehen. Ich dringe aber darauf, dass solch ein Waffenstillstand von einem unparteiischen Brehon überwacht wird. Darüber hinaus verlange ich im Namen meiner Leute Schadenersatz für das verlorene Vieh, für die Toten im Kampfgetümmel …«
»Das soll alles geschehen«, schnitt ihm Nechtan das Wort ab, beachtete ihn nicht weiter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den jungen Mann, der sich Wein nachgeschenkt hatte und inzwischen wieder auf seinem Platz war.
»Und nun zu dir, Cuill. Auch dir habe ich schweres Leid zugefügt, denn dein ganzer Clan weiß, dass ich deine Frau verführt und sie hierhergebracht habe, um gemeinsam mit mir unter einem Dach zu leben, und das vor aller Augen und zur Schande deiner Familie.«
Der hübsche junge Mann saß steif auf der anderen Seite von Daolgar. Er war bemüht, Fassung zu bewahren, doch sein Gesicht war rot, teils aus Beschämung, teils weil er dem Wein reichlich zusprach. Er genoss den Ruf eines vielversprechenden Talents in der angewandten Kunst und war bei Stammesfürsten, Bischöfen und Äbten gleichermaßen gefragt, um Kunstwerke von unvergänglicher Schönheit zu schaffen.
»Sie hat sich verführen lassen«, erwiderte er mürrisch. »Verwerflich an der Sache war, dass man die Sache vor mir geheim gehalten hat. Als sie ging und auch die Kinder im Stich ließ, um bei dir zu wohnen, war für mich der Schlussstrich gezogen. Schlimm, wenn einer so vernarrt ist.«
»Vernarrtheit nennst du das, nicht Liebe?«, herrschte ihn Nechtan an. »Weshalb gestehst du dir nicht ein, dass sie mich liebt?«
»Sie hat sich von einer dummen Leidenschaft hinreißen lassen und jedes vernünftige Urteilsvermögen verloren. Nein, Liebe kann ich das nicht nennen. Für mich ist und bleibt es Vernarrtheit.«
»Du liebst sie immer noch, obwohl sie längst mit mir lebt.« Nechtan grinste spöttisch. »Keine Sorge. Heute Nacht noch, und du hast sie wieder. Ich glaube, mein … Vernarrtsein … in sie hat ein Ende.«
Dass Cuill seinen Zorn nur mühsam beherrschte, schien ihm Spaß zu machen. Krampfhaft hielt sich der junge Mann an seinem Stuhl fest, die Knöchel an den Händen waren weiß. Doch schon war Nechtan der Sache überdrüssig und nahm sich den letzten seiner Gäste vor, den schlanken, dunkelhaarigen Krieger zu seiner Rechten.
»Zu guter Letzt du, Marbán.«
Marbán war der tánaiste, sein rechtmäßiger Nachfolger als Stammesfürst.
»Du hast mir kein Unrecht zugefügt«, stieß der verdrossen, aber entschieden hervor.
Bekümmert schaute ihn Nechtan an. »O doch. Du bist mein tánaiste, mein rechtmäßiger Thronnachfolger. Wenn ich nicht mehr bin, übernimmst du die Herrschaft an meiner statt.«
»Das ist noch lange hin«, entgegnete Marbán. »Und Unrecht ist nicht geschehen.«
»Ich weiß es besser. Vor zehn Jahren, als wir beide vor die Ratsversammlung traten, damit man entscheide, wer von uns Stammesfürst und wer tánaiste sein sollte, begünstigten die Mitglieder dich. Die Wahl wäre eindeutig zu deinen Gunsten ausgefallen. Ich kam noch vor dem Zusammentreten des Rates dahinter und habe nicht unerhebliche Bestechungsgelder gezahlt, damit man mich wählte. So wurde das Amt mir zugesprochen, und fälschlicherweise rücktest du auf den zweiten Platz. Zehn Jahre lang hast du an meiner Seite gedient, obwohl in Wahrheit du hättest herrschen müssen.«
Marbán wurde blass, ließ aber keinerlei Überraschung erkennen. Offensichtlich hatte er seit langem mit dem Wissen um Nechtans Betrug gelebt. Nur schwer konnte er seinen Zorn verbergen, hatte sich aber in Gewalt.
Fidelma fand, das Maß war voll. Sie fühlte sich verpflichtet einzuschreiten und unterbrach das betretene Schweigen mit einem Räuspern. Alle Blicke wandten sich ihr zu, und sie begann in ruhigem, aber bestimmtem Ton: »Du hast uns zu dir gebeten, Nechtan, Fürst der Múscraige, damit wir dir die Kränkungen, die du einem jeden von uns zugefügt hast, verzeihen. Allerdings kannst du nur bei einigen der von dir begangenen verwerflichen Taten auf das bauen, was uns Christus gelehrt hat, und mit Vergebung rechnen. Als dálaigh, als Anwältin bei den Gerichten unseres Landes, muss ich dich darauf aufmerksam machen, dass nicht all deine Missetaten, die du hier eingestanden hast, so einfach verjährt sind. Du hast zugegeben, dass deine Wahl zum Anführer der Múscraige auf unrechtem Weg erfolgt ist. Du hast uns weiterhin eröffnet, dass du dich in dieser Rolle zu Handlungen hast hinreißen lassen, die keineswegs dem Gedeihen deines Volkes dienlich waren, wie zum Beispiel Raub von Viehherden, die auf den Weiden der Sliabh Luachra grasten. Das allein ist eine Straftat, deretwegen du vor den Stammesrat und die Räte meines Bruders Colgú, König von Cashel, gehörst, die über dein weiteres Verbleiben als Stammesfürst befinden müssten …«