Fidelma erwog die Sachlage unter dem rechtlichen Aspekt. »Nach dem Gesetz müssten wir alle Beweise für die Schändlichkeiten, die Nechtan begangen hat, erbringen. Dann würde der Schuldige nur den Ehrenpreis für Nechtan an seine Familie zahlen müssen und ansonsten ungeschoren davonkommen. Es wäre eine Summe von vierzehn cumal …«
Sie hatte ihren Satz nicht zu Ende sprechen können, als sie Dathós bitteres Auflachen unterbrach.
»Und was, wenn einer von uns gar nicht über eine Herde von zweiundvierzig Milchkühen verfügt? Wird die Entschädigung nicht gezahlt, sieht das Gesetz andere Strafen für den Schuldigen vor.«
Marbán grinste von einem Ohr bis zum anderen und erklärte gönnerhaft: »Ich stelle gern den Ehrenpreis zur Verfügung, das ist mir die Sache wert.« Der sonst so wortkarge Krieger erwies sich plötzlich als äußerst entschlussfreudig.
Jetzt beugte sich Cuill, der junge Künstler, vor, der bisher geschwiegen hatte. »Wer also die Tat begangen hat, sollte sich jetzt bekennen, und wir alle werden ihn entlasten. Ich bin der gleichen Meinung wie Ess – Nechtan war ein Schandkerl und hat den Tod verdient.«
Erneut wanderten stumm die Blicke von einem zum anderen, und ein jeder wartete, dass einer von ihnen sich zur Tat bekannte.
»Also, wie steht’s?«, fragte Daolgar nach einer Weile ungeduldig. »Nun los, der Schuldige soll sich endlich zu erkennen geben, damit wir die Sache hier hinter uns bringen und den Unheilsort verlassen können.«
Keiner sagte etwas. Wieder war es Fidelma, die dem Schweigen ein Ende bereitete.
»Wenn niemand die Tat zugeben will …«
»Es wäre für uns alle besser, wenn es schnell geschähe«, fiel ihr Marbán ins Wort. »Egal, wer es war, mein Angebot steht. Ich bin bereit, die Entschädigung in voller Höhe zu tragen.«
Fidelma beobachtete Ess, die mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und mit der Hand nach einer Ausbuchtung an ihrem Oberschenkel tastete. Die schlanken Finger umspannten einen merkwürdig geformten Gegenstand in ihrer Tasche. Ess war im Begriff, etwas zu sagen, aber Dathó, ihr Sohn, kam ihr zuvor.
»Also gut«, begann er schroff, »ich will die Tat gestehen. Ich habe Nechtan, meinen Vater getötet. Ich hatte mehr Grund als ihr alle, ihn zu hassen.«
Laut aufstöhnend hielt Ess den Atem an und blickte völlig überrascht zu ihrem Sohn. Die anderen am Tisch lehnten sich entspannt zurück und schienen erleichtert ob des Bekenntnisses. Fidelma hingegen schaute dem jungen Mann ernst ins Gesicht.
»Wie hast du ihm das Gift in den Becher getan?«, fragte sie.
Er runzelte verwirrt die Stirn.
»Das spielt doch keine Rolle. Ich gestehe die Tat, das reicht.«
»Ein Geständnis bedarf des Beweises«, beharrte Fidelma. »Schildere uns, wie du es gemacht hast.«
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.
»Ich habe das Gift eben in seinen Weinbecher getan.«
»Welche Art von Gift?«
Er blinzelte, zögerte einen Augenblick.
»Nun sprich schon«, forderte ihn Fidelma ärgerlich auf.
»Was tut das zur Sache? Schierling war’s.«
Fidelmas Augen richteten sich auf Ess. Die hatte während seines Geständnisses bleich und verkrampft ihren Sohn angestarrt.
»Ist in dem Fläschchen da Schierling, das du in deiner Hüfttasche trägst, Ess?«
Die Frage kam unerwartet. Impulsiv griff Ess zur Tasche und ergab sich in ihr Schicksal.
»Warum sollte ich es leugnen? Woher hast du gewusst, dass ich ein Gefäß mit Schierling bei mir trage?«
»Halte ein!«, rief Dathó. »Das verhält sich anders. Nachdem ich die Tat begangen hatte, habe ich sie gebeten, das Fläschchen zu verstecken. Es hat nichts mit ihr zu tun …«
Mit einer Handbewegung brachte Fidelma ihn zum Schweigen.
»Lass es mich sehen.«
Ess zog ein kleines Glasfläschchen aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. Fidelma nahm es, entfernte den Stöpsel und schnupperte vorsichtig daran.
»Es ist Schierling, ja. Aber dem Fläschchen wurde nichts entnommen.«
»Meine Mutter hat es nicht getan!«, ereiferte sich Dathó. »Ich war es! Ich gebe es zu! Die Schuld trifft mich!«
Betrübt sah ihn Fidelma an und schüttelte den Kopf.
»Setz dich, Dathó. Weil deine Mutter ein Fläschchen Schierling bei sich hatte und du glaubst, sie hat deinen Vater getötet, möchtest du die Schuld auf dich nehmen. Stimmt’s?«
Aus Dathós Gesicht war die Farbe gewichen; kraftlos sank er auf seinen Stuhl.
»Deine Treue zu ihr ehrt dich. Aber ich glaube nicht, dass deine Mutter die Mörderin war. Zudem ist das Gläschen ja auch noch ganz voll.«
Hilflos starrte Ess sie an, und Fidelma versuchte, sie mit einem verschmitzten Lächeln aufzurichten.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute Abend mit dem Vorsatz hier erschienen bist, deinen früheren Mann aus Rache zu vergiften. Dathó hatte mitbekommen, dass du das Fläschchen bei dir hattest, welches du, nachdem Nechtan tot war, zu verbergen suchtest. Ich habe gesehen, wie ihr beide deswegen tuscheltet. Dabei hattest du gar keine Gelegenheit gehabt, Schierling in Nechtans Becher zu tun. Außerdem wurde Nechtan nicht mit Schierling vergiftet.« Überraschend für alle drehte sie sich zum Arzt. »Ich habe doch recht, Gerróc, oder?«
Der Alte schreckte auf, schaute sie an und bestätigte: »Schierling, auch bei einer starken Dosis, wirkt nicht sofort. Das Gift hier war weit stärker als Schierling.« Er wies auf den Becher. »Du hast gewiss die kleinen Kristalle auf dem Boden bemerkt, Schwester. Es ist Realgar, das sogenannte Höhlenpulver. Künstler benutzen es für ihre Arbeiten als Farbstoff, aber wenn man es einnimmt, reagiert es wie ein schnell wirkendes Gift.«
Fidelma nickte befriedigt, man mochte meinen, er bestätigte lediglich, was sie schon wusste. Sie blickte in die gespannten Gesichter, ihr Hauptaugenmerk aber galt Cuill, dem jungen Künstler. Der war kreidebleich geworden und in sich zusammengesunken.
»Ich habe ihn gehasst«, stammelte er, »aber ich würde nie jemand umbringen. Ich halte es mit den Ehrbegriffen unserer Vorfahren, das Leben ist heilig, egal wie böse es sich darstellt.«
»Aber dieses Gift benutzen Künstler, wie du einer bist, für ihre Arbeit«, unterstrich Marbán. »Wer außer dir und Gerróc wusste das? Weshalb gibst du es nicht zu, wenn du ihn getötet hast? Haben wir nicht beteuert, dass wir für die begangene Tat gegenseitig einstehen? Ich habe doch deutlich gesagt, dass ich für den Täter die Zahlung des Ehrenpreises übernehme.«
»Bei welcher Gelegenheit hätte ich das Gift in Nechtans Becher tun können?«, setzte sich Cuill zur Wehr. »So gesehen, hättest auch du es getan haben können.«
Fidelma schritt ein; fortgesetzte gegenseitige Schuldzuweisungen brachten sie nicht weiter.
»Cuill hat die entscheidende Frage berührt«, sagte sie ruhig, aber doch mit Autorität, dass wieder Ruhe herrschte. »Am besten, ihr setzt euch.«
Langsam, wenn auch widerwillig, folgten sie ihrem Geheiß. Fidelma blieb da stehen, wo Nechtan gesessen hatte.
»Lasst uns noch einmal die Tatsachen durchgehen«, begann sie. »Das Gift war im Weinbecher. Daraus könnte man schlussfolgern, dass es im Wein war. Der Wein war in dem Krug dort.« Sie zeigte auf den Beistelltisch, auf dem der Bedienstete den Weinkrug abgestellt hatte. »Marbán, ruf doch bitte den Diener herein, denn schließlich hatte er Nechtans Becher gefüllt.«
Marbán rief ihn. Es war ein junger, dunkelhaariger, verunsichert wirkender Mann namens Ciar. Als er begriff, was geschehen war, war er vollends verwirrt und kaum mehr ansprechbar.
»Du hast heute Abend den Wein ausgeschenkt, stimmt’s?«, fragte Fidelma.
Ciar nickte. »Ihr habt es doch alle gesehen.«
»Woher stammte der Wein? War es ein besonderer Wein?«