Skar erwog blitzschnell seine Chancen, sich unbemerkt an die Gestalt heranschleichen zu können. Besonders gut waren sie nicht. Die Sicht war schlecht genug, sich bis auf vier, fünf Schritte an einen normalen Gegner heranpirschen zu können, aber er wußte, wie scharf die Sinne einer Errish waren; und zudem war sie nervös und würde garantiert auf alles schießen, was ihr verdächtig vorkam.
Es war die Errish selbst, die die Entscheidung herbeiführte, denn sie erhob sich plötzlich von ihrem Felsen und watete mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den Morast auf ihn zu.
Skar preßte sich tiefer in den Schlamm, der mittlerweile fast so dünnflüssig wie Wasser war. Mit angehaltenem Atem wartete er, daß sie näher kam. Als sie es tat, konnte er unter der weit nach vorn gezogenen Kapuze ihres Mantels für einen Moment ihr Gesicht erkennen und erschrak. Sie war noch ein halbes Kind, kaum älter als Kiina. Skar verwarf den ohnehin nicht sehr ernsthaft erwogenen Gedanken, seinen Dolch zu ziehen und sie durch einen gezielten Wurf auszuschalten. Statt dessen preßte er sich noch tiefer in den Schlamm, konzentrierte sich, um all seine Kräfte zu sammeln - und stieß sich ab.
Seine Hände und Knie fanden auf dem rutschigen Untergrund keinen richtigen Halt. Sein Sprung war viel zu kurz. Ungeschickt flog er auf die Errish zu, sah, wie sie herumfuhr und ihn aus erschrocken geweiteten Augen anstarrte, gleichzeitig aber auch den Scanner hob, unbeschadet der Tatsache, daß die Wirkung der Strahlenwaffe auch sie verletzen, wenn nicht töten mußte, wenn sie aus einer so geringen Entfernung auf ihn schoß. Skar warf sich verzweifelt zur Seite, streckte die Arme aus - und bekam ihr Fußgelenk zu fassen.
Er mußte sie nicht einmal niederringen. Die pure Wucht seines Sturzes riß die Errish von den Füßen. Sie schrie auf, kippte in einer fast grotesken Bewegung nach hinten und feuerte noch im Sturz ihre Waffe ab. Der Scanner sengte einen blauweißen Halbkreis aus Licht in den Himmel und erlosch, als die Waffe ihren Fingern entglitt und im Morast versank. In der nächsten Sekunde war Skar über der Errish und preßte ihre Schultern gegen den Boden. Jedenfalls wollte er es.
Aber die Frau mit dem Gesicht eines Kindes reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Statt sich zu wehren oder gegen seine Hände zu stemmen, warf sie sich im Gegenteil zurück, zog plötzlich die Knie an und streckte dann blitzartig die Beine aus. Skar fühlte sich mit einem Male gewichtslos. Im hohen Bogen flog er über den Kopf der Errish hinweg, schlug einen halben Salto in der Luft und klatschte in den Schlamm. Der Aufprall war weich, fast federnd, aber er blieb trotzdem eine Sekunde lang benommen liegen. Die Technik, mit der ihn die Errish abgeschüttelt hatte, war ihm bekannt, und nicht einmal besonders schwer zu erlernen. Aber er hatte einfach nicht damit gerechnet. Die Errish waren Frauen, die Wissen und die Heilung von Krankheiten und Wunden brachten; niemand, der auf Satai-Art zu kämpfen gelernt hatte.
Diese hier hatte es, wie Skar in der nächsten Sekunde auf äußerst schmerzhafte Art erfahren mußte. Er stand auf, aber wieder war die Errish schneller. Sie war bereits auf den Füßen, und sie beging nicht etwa den Fehler, entscheidende Sekunden damit zu verschwenden, nach ihrer Waffe zu suchen, sondern griff ihn sofort an. Ihre Hände krallten sich in sein Haar, rissen seinen Kopf zurück und fast unmittelbar wieder nach vorne, so daß er erneut das Gleichgewicht verlor, und eine halbe Sekunde später traf ihr hochgerissenes Knie seine Kiefer.
Skar keuchte vor Schmerz, stürzte rücklings und mit hilflos pendelnden Armen in den Schlamm und versuchte die Benommenheit abzuschütteln. Ein Fußtritt traf seinen Hals und verfehlte die Kehle nur um Millimeter. Skar riß instinktiv die Arme hoch, spürte, daß er etwas traf und hörte einen spitzen, schmerzerfüllten Schrei, dem der sonderbar weiche Aufprall eines Körpers im Schlamm folgte.
Stöhnend wälzte er sich herum, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und versuchte Morast und Regen fortzublinzeln, die ihm in die Augen liefen. Sein Schädel dröhnte, und er hatte Mühe, zu atmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Errish neben ihm taumelnd erhob. Er trat nach ihr, verfehlte sie, zwang sie aber zumindest, einen Schritt zurückzuweichen, so daß auch ihm Zeit blieb, vollends aufzustehen.
Die Errish schlug nun eine andere Taktik ein. Sie mußte begriffen haben, daß er entschieden zu kräftig war, als daß sie sich auf ein Handgemenge mit ihm einlassen konnte, und begann ihn zu umkreisen, auf eine Art, die Skar nur zu gut kannte, langsam, mit gespreizten, in den Knien leicht eingeknickten Beinen und vorgebeugtem Oberkörper, die linke Hand zur Faust geballt vor dem Magen, die andere lose pendelnd an der Hüfte. Skar wußte jetzt, daß es ein Satai gewesen sein mußte, der ihr diese Art zu kämpfen beigebracht hatte.
»Hör auf!« sagte er schweratmend. »Ich will dich nicht um -« Die Errish sprang mit einem spitzen Schrei auf ihn zu, täuschte einen Fausthieb vor und vollführte dann eine blitzartige Drehung, aus der heraus sie mit aller Kraft zutrat. Skar fing den Tritt mit dem Handballen ab und fegte sie seinerseits mit einem Tritt gegen ihr Standbein von den Füßen. Und diesmal war er gewarnt. Blitzschnell war er über ihr, preßte sie gegen den Boden und drückte ihr Gesicht für zwei, drei Sekunden in den Schlamm, ehe er sie losließ. Die Errish riß den Kopf in die Höhe und rang keuchend nach Atem. Gleichzeitig versuchte sie mit den Händen sein Gesicht zu erreichen, um ihm die Augen auszukratzen. Ihre Kapuze verrutschte, und Skar grub die Hand in ihr langes, schwarzes Haar und drückte ihr Gesicht ein zweites Mal in den Morast. Und er ließ sie erst los, als ihre verzweifelte Gegenwehr schwächer wurde.
»Bist du jetzt vernünftig?« fragte er.
Die Errish hustete qualvoll und machte eine Bewegung, von der er wenigstens annahm, daß sie ein Nicken sein sollte. Skar ließ sie vollends los und richtete sich auf. Er sah ihre Bewegung einen Sekundenbruchteil zu spät. Ihre Faust schoß vor, traf seinen linken Rippenbogen und brach ihn.
Skar brüllte vor Schmerz, brach abermals in die Knie und riß die Errish noch im Fallen mit und begrub sie halb unter sich. Sie wehrte sich mit aller Kraft und schrie vor Zorn und Angst, aber Skar ließ ihr keine Chance mehr. Seine Hand glitt an ihrem Nacken empor, suchte eine bestimmte Stelle und drückte kurz und hart zu. Ein krampfhaftes Zucken lief durch den Körper der Errish, dann erschlaffte sie.
Sekundenlang blieb Skar mit geschlossenen Augen einfach über ihr liegen. Seine - zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit! - gebrochene Rippe schmerzte höllisch, und jedes Luftholen tat so weh, als versuche er gemahlenes Glas einzuatmen. Mit aller Macht kämpfte er den Schmerz nieder, stemmte sich in eine halb sitzende Position hoch und preßte die Hand auf die pochende Rippe. Die Verletzung war nicht lebensgefährlich; nicht einmal besonders schlimm, aber sie tat doppelt weh, als Skar die Augen öffnete und auf den schmalen Mädchenkörper vor sich herabstarrte. Verdammt, wer war er, daß er sich von einem Kind halb tot schlagen ließ?
Mühsam arbeitete er sich in die Höhe, schob die Hände unter die Achselhöhlen der Bewußtlosen und schleifte sie stöhnend zu dem Felsen zurück, auf dem sie gesessen hatte, als er sie entdeckte. Sie würde für mindestens eine Stunde bewußtlos sein, vielleicht länger, und er wollte nicht, daß sie im Morast ertrank. Sorgfältig überzeugte er sich davon, daß sie nicht von dem Felsen herunterrutschen konnte, falls sie sich im Schlaf bewegen sollte, dann richtete er sich auf und blickte wieder nach Süden.