Kiina war stehengeblieben, um auf ihn zu warten. »Glaubst du, daß er Wort hält?«
Skar zuckte mit den Achseln und sah zu, wie eine zweite und dritte Daktyle in rascher Folge aus den Wolken auftauchten und mit scheinbar unbeholfenen Bewegungen dicht vor Anschi zur Landung ansetzte. »Sie haben uns mehr als tausend Meilen weit begleitet«, sagte er. »Warum sollte sich daran plötzlich etwas ändern?«
»Titch hat uns begleitet, weil er glaubte, bei den Errish Hilfe zu finden«, sagte Kiina ernst. »Statt dessen haben sie ihn angegriffen.«
»Es war ein schrecklicher Irrtum«, sagte Skar, obwohl er ganz und gar nicht davon überzeugt war, daß Titch dies ebenso sehen würde. Er vertraute dem Quorrl; mehr, als er den meisten Menschen vertraute, die er in den letzten Monaten kennengelernt hatte. Aber er mußte aufpassen, daß er nicht anfing, ihn auch als Menschen zu betrachten. Titch war es nicht. Er war ein Quorrl, ein Wesen, das unter völlig anderen Bedingungen geboren und aufgewachsen war, und dessen Wertvorstellungen sich nicht mit denen eines Menschen deckten. Es war unmöglich, seine Reaktionen vorauszusehen. Er antwortete nicht, sondern ging weiter, als die letzte Daktyle den Boden erreicht hatte und Anschi ihnen winkte. Auf dem Weg zu ihr begann Kiina erneut zu husten, und diesmal war es so schlimm, daß sie stehenblieb und sich qualvoll krümmte. Skar griff nach ihr, aber Kiina schüttelte seine Hand trotzig ab und stützte sich schwer auf einen Felsen.
»Was hast du?« fragte Skar besorgt.
»Nichts«, antwortete Kiina, immer noch hustend. Ihr Atem ging schnell; trotzdem schien sie kaum Luft zu bekommen.
»Das hört sich nicht nach nichts an«, sagte Skar.
»Dieser verdammte Regen«, antwortete Kiina. »Da muß man ja krank werden.« Sie bekam ihre revoltierenden Lungen endlich wieder unter Kontrolle, atmete ein paarmal gezwungen tief ein und aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich in das Regenwasser gemischt hatte. »Es ist nichts«, versicherte sie. »Yul wird mir ein Mittel geben, und morgen früh ist alles wieder vergessen. Keine Sorge.«
Wahrscheinlich hatte sie sogar recht, dachte Skar. Es war sogar ganz im Gegenteil erstaunlich, daß sie bisher nicht krank geworden waren, alle beide. Zwei Tage ununterbrochener Regen, Kälte und unruhiger Schlaf in nassen Kleidern ruinierten selbst die stärkste Kondition.
Trotzdem beobachtete er Kiina besorgt, während sie auf den Rücken der Daktyle kletterte, die Anschi ihr zuwies. Ihre Bewegungen waren ungelenk und verdeutlichten, wie schwach und erschöpft Kiina war. Als sie nach den Zügeln des großen Flugreptils griff, zitterten ihre Finger.
Auch Anschi war Kiinas Zustand nicht entgangen. Wortlos trat sie neben sie, löste ein kompliziert aussehendes Geschirr aus dünnen Lederriemen vom Sattel der Daktyle und begann sie damit festzuschnallen. Kiinas schwachen Protest ignorierte sie einfach. Skar schüttelte den Kopf, als die Errish auch ihm beim Aufsteigen behilflich sein wollte. Nicht besonders geschickt, dafür aber sehr schnell, kletterte er in den bizarr geformten Sattel, der zwischen den zusammengefalteten Fledermausschwingen der Daktyle wie ein Geschwür aussah, und nahm die Zügel in die Hand. Die Daktyle bewegte unruhig den Kopf. Eines ihrer daumennagelgroßen, dunkelroten Augen starrte Skar mit einer Mischung aus Bosheit und Mißtrauen an. Skar schauderte. Es war nicht das erste Mal, daß er auf dem Rücken einer dieser fliegenden Bestien saß, aber seine Furcht war so stark wie beim allerersten Mal. Die Daktylen waren schnell und stark und zäh, und in den Händen einer Errish konnten sie zu entsetzlichen Waffen werden, aber dummerweise verfügte Skar weder über die Fähigkeit, seinen Geist telepathisch mit dem des Drachenvogels zu verschmelzen und ihn so zu beherrschen, noch war er der Meinung, daß eine Fortbewegung fünfhundert Fuß über der Erde etwas ganz Selbstverständliches sei. Er fragte sich, ob es stimme, was man sich über die Daktylen erzählte: daß sie die intelligentesten unter den Drachen waren. Und die heimtückischsten.
»Keine Sorge, Satai«, sagte Anschi, die seine Gefühle auf seinem Gesicht abgelesen haben mußte. »Ich fliege mit euch. Ich werde sie steuern. Halt dich einfach nur fest.«
»Alle drei?« fragte Skar zweifelnd.
»Es wird schon gehen«, antwortete Anschi leichthin. »Der Weg ist nicht sehr weit. Keine halbe Stunde, wenn der Sturm nicht zunimmt.« Sie lächelte aufmunternd, ging zu ihrem eigenen Tier und schwang sich mit einer Bewegung in den Sattel, die Skar vor Neid hätte erblassen lassen, wäre er nicht viel zu erschöpft gewesen, um Kraft für solch alberne Empfindungen zu haben.
Anschi hob die Hand, und ein Zittern lief durch den knochigen Echsenkörper zwischen seinen Schenkeln. Die Daktyle machte einen Schritt, noch einen - und startete auf die einzige Art, auf die die großen Drachenvögel sich vom Boden lösen konnten: sie stürzte fast senkrecht an der Steilküste hinab, breitete auf halber Höhe die gewaltigen Schwingen aus und verwandelte ihren Fall in einen immer flacher werdenden Gleitflug, der Skars Magen bis in seinen Hals hinaufkatapultierte und sie in unangenehme Nähe der Wasseroberfläche brachte. Erst fünf oder sechs Meter über dem Meer gelang es dem Drachenvogel, in einen waagerechten Flug überzugehen, dann schlugen seine Schwingen mit einem gewaltigen, ledernen Flappen und schaufelten Tier und Reiter wieder in die Höhe. Skar klammerte sich mit beinahe verzweifelter Kraft an die Zügel. Das Meer sackte langsam wieder unter ihm in die Tiefe, und links von seinem eigenen Reittier tauchte der bizarre Schatten einer weiteren Daktyle aus der Nacht auf. Er erkannte Anschi und hörte, daß sie ihm etwas zurief, aber er verstand ihre Worte nicht. Und es gelang ihm auch nicht, das Schwindelgfühl vollends zurückzudrängen, das der rasende Sturzflug in seinem Kopf ausgelöst hatte.
Auch nicht, als die beiden Daktylen, zu denen sich wenige Augenblicke später ein drittes Tier gesellte, weiter an Höhe gewannen und schließlich in ihren gewohnten, fast lautlosen Gleitflug übergingen, der nur manchmal von träge erscheinenden Flügelschlägen unterbrochen wurde. Im Gegenteil - es wurde immer schlimmer. Elay glitt als formloser finsterer Schatten in der Nacht unter ihnen hinweg, und schon nach Minuten wurde der Boden vollends unsichtbar, so daß er das Gefühl hatte, durch einen endlosen finsteren Schacht zu gleiten, in dem es kein oben und kein unten mehr gab, sondern nur Kälte und schneidenden Wind und eisigen Regen, der wie mit Messern in sein Gesicht schnitt. Und doch war dieser Tunnel durch die Nacht nicht leer. Etwas war da; etwas wie eine lautlose saugende Macht, die alle Kraft aus seinem Körper fließen ließ. Skars Magen revoltierte. Ihm wurde übel, und hinter seiner Stirn drehte sich alles. Kraftlos sank er nach vorne, stützte sich mit der linken Hand auf dem Sattel ab und umklammerte mit der anderen die Zügel, nicht, um das Tier zu lenken, sondern um sich daran festzuklammern.
Skar fühlte eine Erleichterung wie niemals zuvor, als endlich die Lichter des Lagerplatzes unter ihnen in der Nacht erschienen. Anschi hatte gesagt, daß der Flug keine halbe Stunde dauerte, und er glaubte ihr. Trotzdem hatte er das Gefühl, seit einer Ewigkeit auf dem Rücken des bockenden Drachenvogels zu hocken. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper war verkrampft und tat weh, und die Übelkeit kroch allmählich aus seinem Magen in die Kehle empor und wurde zu Brechreiz, den er kaum mehr beherrschen konnte. Seine verletzte Rippe meldete sich mit einem hämmernden Klopfen zurück, und als sich die Daktyle, von Anschis Willenskraft gelenkt, in eine weite Linkskurve legte und zur Landung ansetzte, wäre er um ein Haar aus dem Sattel gestürzt.