»Wie lange seid ihr schon hier?« fragte er, während sie sich nebeneinander der großen Palisadenwand näherten, die er aus der Luft heraus gesehen hatte.
»An diesem Ort?« Yul überlegte. »Zehn... nein, elf Tage. Oh, ich weiß, er ist erbärmlich, aber das Beste, was wir haben.« Sie beschattete die Augen mit der Hand und blickte aufs Meer hinaus, als suche sie nach etwas Bestimmtem. Skar folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Es war sehr warm. Nachdem sie die Hütte verlassen hatten, begann er die Sonne bereits unangenehm zu spüren, die er solange vermißt hatte. Und der Juckreiz hatte keineswegs aufgehört. Skar mußte sich beherrschen, um sich nicht ununterbrochen am ganzen Leib zu kratzen. »Wir waren auf dem Weg zurück nach Elay«, fuhr Yul fort. »Anschi und die, die mit mir in die Wüste geflohen waren, als der Wächter Elay angriff.«
»Du hast sie angeführt?«
»Nicht direkt«, antwortete Yul mit einem schmerzlichen Lächeln. »Um ehrlich zu sein - es war ein purer Zufall, daß wir entkamen. Wir versteckten uns, zuerst in der Nähe Elays, später, als sie anfingen, uns zu jagen, im Tal der Drachen, und nach und nach stießen andere zu uns, die dem Wächter entkommen waren; oder die er nicht für wichtig genug empfunden hatte, sich ihrer zu bemächtigen.«
»Wie viele seid ihr?«
»Siebzig«, antwortete Yul. »Vielleicht achtzig - ich weiß es nicht genau. Viele starben, als wir die Kontrolle über die Drachen verloren. Viele wurden von ihren Tieren getötet, bis wir begriffen, daß aus unseren Drachen wieder wilde Bestien geworden waren, andere fielen den Angriffen ihrer eigenen Schwestern zum Opfer. Wäre der Satai nicht erschienen, von dem Anschi dir erzählt hat, wären wir vielleicht alle gestorben. Er lehrte uns zu kämpfen und zu überleben.«
»Und ihr habt euch die ganze Zeit draußen in der Wüste verborgen?« fragte Skar erstaunt.
»Und immer auf der Flucht«, fügte Yul bitter hinzu. »Aber schließlich hörten wir, daß der Wächter besiegt war. Du mußt wissen, wir hatten Freunde in Elay. Verbündete, die uns manchmal Nachrichten zukommen ließen oder eine Warnung. Wir brachen auf, um in die Stadt zurückzukehren. An diesem Ort hier legten wir unsere letzte Rast ein.« Sie lachte bitter. »Um uns zu säubern. Um unsere Wunden zu versorgen und saubere Kleider anzulegen, damit wir nicht wie die Bettler zurückkehrten.«
»Es hat euch das Leben gerettet«, sagte Skar.
»Wahrscheinlich«, sagte Yul. »Nein, sicher. Wären wir weiter geritten...« Sie stockte. Ihr Blick richtete sich wieder auf jene imaginäre Stelle weit draußen auf dem Meer, und plötzlich wurde ihre Stimme noch leiser, so daß Skar sich anstrengen mußte, um ihre Worte überhaupt zu verstehen. »Es begann dort draußen, Skar. Ich habe es gesehen.«
»Was?« fragte Skar.
»Der Sturm«, antwortete Yul. »Der Staub, der Elay vernichtete. Ich stand hier, hier wo wir jetzt sind, und es begann dort, irgendwo hinter dem Horizont.« Sie hob den Stock und deutete zitternd mit dem polierten Holz nach Westen. »Auf einer jener kleinen Inseln, die dort liegen. Licht. Ein böses, weißes Licht, wie ich es nie zuvor im Leben gesehen habe. Es war, als wäre die Sonne auf die Erde herabgefallen.«
»Ein Licht?« wiederholte Skar zweifelnd. »Die Margoi hat nichts von einem Licht erzählt.«
»Vielleicht haben sie es nicht bemerkt«, antwortete Yul. »Elay stand in Flammen, vergiß das nicht. Sie kämpften. Vielleicht haben sie es gesehen, aber nicht gewußt, was es bedeutete. Aber ich sah es und wußte, daß es das Ende war.«
»Und... dann?« fragte Skar, als Yul nicht weitersprach, sondern nur aus blicklosen, weit aufgerissenen Augen nach Westen starrte. »Das Licht verlosch, aber eine Stunde später begann der Sturm. Und mit ihm kam der tödliche Staub, der Elay zerstörte. Du hast gesehen, was er getan hat. Es muß aufhören, Skar. Bevor ganz Enwor untergeht.«
Es war nicht allein das, was sie aussprach, was Skar abermals frösteln ließ. Yuls mehr zu sich selbst als an Skars Adresse gerichtete Worte hatten plötzlich etwas von einer Prophezeiung, einer düsteren, unheilschwangeren, aber unausweichlichen Prophezeiung. Skar antwortete nicht, obgleich er wußte, daß die Errish allein sein Schweigen als Zustimmung werten würde.
Einzig, um sich auf andere Gedanken zu bringen, deutete er auf den Pferch hinter dem Palisadenzaun. »Diese Kreaturen«, sagte er. »Was ist das? Ich habe nie zuvor Wesen wie diese gesehen.«
»Du warst auch noch nie im Tal der Drachen«, antwortete Yul. »Oder?«
Skar verneinte. Jetzt, im hellen, beinahe schattenlosen Licht der Mittagssonne, konnte er die so sonderbar menschenähnlich aussehenden Geschöpfe weit besser erkennen als gestern nacht, aber die Helligkeit des Tages nahm ihnen nichts von ihrem unheimlichen Äußeren. Ganz im Gegenteil. Die Kreaturen - Skar weigerte sich selbst in Gedanken, sie Drachen zu nennen, obgleich sie es zweifellos waren; aber alles in ihm sträubte sich dagegen, diese häßlichen, mörderischen Dinger mit den stolzen Riesenechsen zu vergleichen, auf denen die Errish ritten - hatten tatsächlich etwas Menschenähnliches; schon weil sie sich aufrecht gehend auf den Hinterfüßen fortbewegten und ihre Vorderbeine zu kleinen, klauenbewehrten Ärmchen verkümmert waren - klein allerdings nur im Vergleich mit den muskelbepackten Hinterläufen, die so stark wie Skars Oberkörper waren. Ein langer, gepanzerter Schwanz half ihnen offensichtlich dabei, das Gleichgewicht bei dieser für ihre Gattung ungewöhnlichen Art der Fortbewegung zu halten; ihre Füße waren groß und dreizehig wie die von Vögeln und mußten zu entsetzlichen Waffen werden, wenn sie sie im Kampf einsetzten. Das Häßlichste an den Tyrr aber war der Schädel, der unverhältnismäßig groß für den Rest des Körpers war und nur aus Maul und Zähnen zu bestehen schien. Die Tyrr waren zwischen sechs und acht Fuß groß, aber Skar schätzte ihr Körpergewicht auf eine gute halbe Tonne. Er fragte sich, ob sie intelligent waren, wie man es manchen Drachen nachsagte.
Yul gab ihm ausreichend Zeit, die scheußlichen Kreaturen zu begutachten, ehe sie weitersprach. »Sie leben im Tal der Drachen, so wie die Skrot, die Kiina verfolgten. Im Grunde sind sie harmlos.«
Harmlos? Skar hob zweifelnd die Augenbrauen. Gestern abend hatte er nicht den Eindruck gehabt, daß die Tyrr in irgendeiner Form harmlos waren. Ganz im Gegenteil - er erinnerte sich schaudernd daran, wie fürchterlich diese Wesen unter Titchs Quorrl gewütet hatten.
»Sie sind Aasfresser, und wie alle Aasfresser feige«, erklärte Yul. »Außer wenn sie ihre Beute in großen Gruppen angreifen können.«
»Oder von einer Errish gelenkt werden«, vermutete Skar. Yul nickte, aber ihr Gesicht sah dabei fast angewidert aus. »Glaube nicht, daß es uns freut, uns dieser Tiere zu bedienen«, sagte sie. »Aber sie sind alles, was uns geblieben ist. Sie und die Skrot und ein paar alte oder schwache Drachen, die sich nicht mehr gegen unseren Willen wehren können.«
»Dann hatte Kiina recht, als sie behauptete, der Wächter hätte euch die Drachen genommen?«
»Ja«, seufzte Yul. »Niemals hätte er den Geist eines Drachen bezwingen können«, sagte sie überzeugt. »So trennte er uns von ihnen.«
»Aber gestern abend, bei den Quorrl -«
»Hast du einen wirklichen Drachen gesehen, ich weiß«, unterbrach ihn Yul. »Ereil. Mein eigenes Tier.« Sie schwieg einen Moment, warf den Tyrr einen langen, eindeutig angewiderten Blick zu und drehte sich zu Skar um. »Sie ist vielleicht der letzte Drache, der uns geblieben ist. Aber sie ist so alt und schwach wie ihre Herrin. Wenn sie stirbt, dann wird es keine Drachenreiterinnen mehr auf Enwor geben. Die Mädchen sind noch nicht soweit.«