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Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Es war so, wie er im allerersten Moment geglaubt hatte. Elay war eine Stadt der Toten. Zwischen den schlammbedeckten Trümmern lebte nichts mehr. Und gerade das war es, was Skar mehr als alles andere beunruhigte. Er hatte das Leben eines Kriegers geführt und mehr als eine geschleifte Stadt gesehen - aber er war niemals an einem Ort gewesen, der so völlig ohne Leben gewesen wäre wie Elay. Sie fanden sehr viel weniger Tote, als er beim Anblick des mit reglosen Körpern übersäten Torplatzes befürchtet hatte, aber das hieß nicht, daß es keine Leichen gegeben hätte.

Nach einer Weile blieb er wieder stehen und winkte Kiina, zu ihm zurückzukommen.

»Was hast du?«

Skar deutete auf den reglosen Körper einer Errish, der halb unter dem Kadaver eines Pferdes eingeklemmt war. Tier und Reiter waren im gleichen Augenblick gestorben, wie ihre Stellung verriet. »Schau sie dir an«, verlangte er.

Kiina gehorchte. Skar beobachtete sie genau, während sie die Tote betrachtete. Ihr Gesicht verriet leise Spuren von Ekel, und ihre Hände zitterten noch immer ein wenig. Aber er sah keine Spuren von Panik. Kiina hatte den Schock schneller überwunden, als er gehofft hatte.

»Fällt dir nichts auf?« fragte er.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Sie ist unversehrt«, fuhr Skar fort.

»Unversehrt?« Kiina ächzte. »Sie ist -«

»Sie liegt seit mindestens zehn Tagen hier und beginnt zu verwesen«, unterbrach sie Skar, »aber das meine ich nicht. Sie sind alle unversehrt, Kiina.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Ich war schon in Städten, deren Bewohner bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden.«

»Und?« Kiina begriff immer noch nicht.

»Ein Festschmaus für die Ratten und Fliegen«, sagte Skar. »Siehst du welche?«

Kiina antwortete nicht, aber ihr Blick verriet Skar, daß sie endlich begriffen hatte. Nicht nur die menschlichen Bewohner Elays waren getötet worden. Etwas - jemand? - hatte jede Spur von Leben aus dieser Stadt getilgt, und mehr noch: Ein Tisch, der so reichlich gedeckt war wie dieser, hätte jeden Aasfresser im Umkreis von hundert Meilen anziehen müssen. Daß er es nicht getan hat, dafür gab es eigentlich nur zwei Erklärungen: irgend etwas hielt alles Leben von Elay fern, das nicht auf zwei Beinen ging und dumm genug war, die Warnungen seines Gefühles zu mißachten - oder die unsichtbare tötende Macht, die Elay ausgelöscht hatte, war noch da.

Keine dieser beiden Erklärungen gefiel Skar besonders.

Er machte eine abgehackte Handbewegung. »Komm weiter. Je eher wir hier wieder heraus sind, desto besser.«

Je weiter sie sich dem Palast näherten, desto unübersehbarer wurden die Spuren schwerer Kämpfe, die in Elay getobt haben mußten, ehe der Tod zu seinem letzten Schlag ausholte. Manche Gebäude waren nur noch Trümmerhaufen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, andere wie von gewaltigen Axthieben halbiert, ihrer Fassaden beraubt oder zur Hälfte pulverisiert, während die andere absurd unversehrt stehengeblieben war, und einmal wurde ihr Weg zu einer lebensgefährlichen Rutschpartie, als der Straßenbelag unter ihren Füßen sich jäh in schwarze, zu Glas zusammengeschmolzene Schlacke verwandelte.

Kiina sagte kein Wort, obwohl sie zehnmal besser als Skar wissen mußte, was hier geschehen war. Es gab auf ganz Enwor nur eine einzige Waffe, die imstande war, solche Verheerungen anzurichten. Die Scanner der Ehrwürdigen Frauen.

Was war hier geschehen?

Schließlich fanden sie auch Menschen, die eindeutig eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Skar ersparte sich die grausige Aufgabe, die Leichname genauer zu untersuchen, aber ein flüchtiger Blick reichte bereits. Seltsam - er hätte nie geglaubt, daß er eines Tages froh sein könnte, die entsetzlichen Spuren zu sehen, die Schwerter und Messer hinterlassen konnten, aber er war es. Selbst die furchtbarsten Wunden wirkten nicht so erschreckend wie der Anblick eines Todes, der völlig spurlos zuschlug, und im Bruchteil einer Sekunde.

Als sie sich dem Palast der Margoi bis auf hundert Schritte genähert hatten, fanden sie einen toten Drachen.

Es war kein sehr großes Tier; nicht sehr viel größer als eines der Schlachtpferde, auf denen Titch und seine Quorrl ritten, wenn auch ungefähr fünfmal so massig, aber sein Anblick überraschte Skar trotzdem. Soviel er wußte, nahmen die Errish ihre Tiere niemals mit in die Stadt. Sie beherrschten die Drachen wie kein anderer auf Enwor, aber es blieben trotzdem Tiere, gigantische, letztendlich immer noch unberechenbare Bestien, die die weiten Steppen Enwors gewohnt waren. In der Enge einer Stadt - selbst einer so großen Stadt wie Elay - wurden sie rasend.

Auch dieses Tier war keinen friedlichen Tod gestorben: sein massiver Kadaver lag halb unter den Trümmern eines Hauses begraben, dessen Fassade es im Todeskampf niedergerissen hatte. Ein halbes Dutzend abgebrochener Pfeile ragte aus seinem Hals, und darunter zeigten die handtellergroßen Panzerplatten Spuren von Scannern: das Horn war geborsten, und das empfindliche Fleisch darunter verbrannt.

Skar sah sich aufmerksamer um. Auch hier regte sich kein Leben, und der seit zwei Tagen unablässig fallende Regen hatte alle Spuren verwischt, falls es überhaupt welche gegeben hatte. Aber dem Auge eines Kriegers erzählten auch die Toten manchmal noch eine Geschichte, und diese hier taten es. Aber er behielt seine Vermutung vorläufig noch für sich, obgleich er zumindest ahnte, daß auch Kiina begriffen hatte, was hier wirklich geschehen war. Vorsichtig näherten sie sich dem Palast. Auch an der riesigen Nadel aus schwarzer Lava waren die Kämpfe nicht spurlos vorübergegangen: auf den Stufen lagen die verkrümmten Gestalten von sieben oder acht Errish, und als sie näher kamen, sah Skar, daß das Tor gewaltsam aufgesprengt worden war. In die glänzenden Flanken des Turms waren gezackte schwarze Blitze eingebrannt. Sie blieben stehen, als sie die oberste Stufe erreicht hatten. Skar gab Kiina mit Handzeichen zu verstehen, ein paar Schritte zurückzubleiben - was sie natürlich nicht tat -, zog abermals sein Schwert und sog prüfend die Luft ein. Süßlicher, Übelkeit erregender Leichengeruch schlug ihm entgegen. Der Regen, der wenigstens die Luft draußen über der Stadt saubergewaschen hatte, hatte den Palast nicht erreicht.

»Bist du sicher, daß du dort hineingehen willst?« fragte Kiina. Skar sah sie durchdringend an. »Du wolltest doch wissen, was hier passiert ist, oder?« Sein grober Ton tat ihm sofort wieder leid. »Entschuldige. Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Ich brauche jemanden, der mir den Rücken deckt.«

Selbst Kiina begriff, daß zumindest der letzte Satz einzig dem Zweck diente, ihr einen Vorwand zu liefern, um zurückzubleiben. Sie schürzte trotzig die Lippen, trat mit einem entschlossenen Schritt neben ihn und ging so schnell los, daß Skar fast Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten.

2.

Sie fanden auch im Palast Tote, allerdings nicht halb so viele, wie Skar erwartet hatte. Die große, ehemals prunkvolle Eingangshalle des Palastes war ausgebrannt, und auch einige der dahinterliegenden Räume zeigten die Spuren schwerer Kämpfe: Stein, der zerschmolzen und zu bizarren blasigen Formen wiedererstarrt war, ausgebrannte Räume, zerborstene Türen. Aber der allergrößte Teil des Palastes war unversehrt.

Und leer.

Fast eine Stunde lang durchsuchten sie das gewaltige Bauwerk, wobei Skar Kiina wortlos die Führung überließ. Er gehörte zwar zu den wenigen Menschen, die diesen Palast schon zweimal betreten hatten, aber das war Jahre her, während Kiina hier aufgewachsen war, noch dazu als Tochter der Ehrwürdigen Mutter, für die es keine verschlossenen Türen und keine Geheimnisse gab. Und sie kannte sich wirklich gut aus: ohne ihre Hilfe hätte Skar sich wahrscheinlich hoffnungslos in dem Labyrinth aus Gängen und Hallen und ineinandergeschachtelten Ebenen verirrt, durch das Kiina ihn leitete; ganz davon abgesehen, daß er die meisten Räume nicht einmal gefunden hätte. Was sie nicht fanden, das waren Errish. Weder lebende noch tote. Der Palast war leer. Der Leichengestank, der sie empfangen hatte, stammte von Toten unten in der Halle. Aber überall lag Staub; der gleiche, pulverige graue Staub, der die Stadt bedeckte und durch Fenster und Balkon und jede noch so winzige Ritze hereingeweht worden war.