Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Geduckt huschten sie los, immer im Schatten der Hütten entlang und in die Richtung, in der Skar die Pferde der Errish vermutete. Er hoffte, daß sie überhaupt Pferde hatten. Bisher hatte er sie nur auf den Daktylen oder den großen Drachen reiten sehen.
Sie wandten sich nach Süden, in die Richtung, in der Skar die Pferde untergebracht hätte, hätte er dieses Lager geplant, denn im Norden befand sich der Pferch mit den Tyrr, im Westen die See und im Osten die zyklopischen Felsen, die der Handvoll Hütten als Deckung dienten. Und er behielt mit seiner Vermutung recht: Die Errish hatten Pferde - nicht sehr viele, aber sie brauchten ja auch nur zwei - und sie waren an der Stelle des Lagers untergebracht, die vom Tyrr-Gehege am weitesten entfernt war. Pferde und Drachen hatten sich noch nie gut verstanden, was vielleicht daran lag, daß die einen die anderen nur zu gerne als willkommene Abwechslung ihres Speiseplanes verstanden.
Skar signalisierte Kiina mit Gesten, stehenzubleiben, als das Gatter mit dem knappen Dutzend schlafender Pferde vor ihnen lag. Von einem Wächter war weit und breit nichts zu sehen, was ihn überraschte und gleichzeitig mißtrauisch stimmte. Aber vielleicht, dachte er, war die Anwesenheit aller Errish nötig bei jenem sonderbaren Tanz.
Mißtrauisch sah er zum Lager zurück. Die Errish und ihre dämonischen Besucher waren nur noch als verschwommene Schatten zu erkennen, aber sie bewegten sich noch immer wie kleine schwarze Motten vor dem roten Schein des Feuers. Und je länger Skar hinsah, desto deutlicher glaubte er ein Muster in dieser Bewegung wahrzunehmen.
»Sie werden unsere Flucht bemerken«, drang Kiinas Stimme in seine Gedanken.
»Ja«, murmelte Skar. In Gedanken fügte er hinzu: In knapp zwei Stunden. Wenn wir Glück haben. Aber das behielt er lieber für sich. Statt dessen sah er Kiina an und versuchte, einen möglichst aufmunternden Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern. »Ich kenne ein paar kleine Tricks, um Verfolger abzuschütteln. Auch solche«, fügte er hinzu, »die fliegen können.« Was eine glatte Lüge war. Skar war sich der Tatsache schmerzhaft bewußt, daß sie in dem öden Wüstenland nördlich Elays kaum eine Deckung finden würden, die ihnen Schutz vor einem Verfolger gab, der sie aus hundert oder auch tausend Fuß Höhe suchen konnte. »Vielleicht gelingt es uns, uns zu Titch durchzuschlagen.«
»Und dann?«
Skar seufzte. Er hätte viel darum gegeben, die Antwort auf diese Frage zu wissen. Aber wenn er sie sich jedesmal gestellt hätte, bevor er eine Flucht oder ein besonders riskantes Unternehmen begann, dann wäre er jetzt längst nicht mehr am Leben. Statt zu antworten, erhob er sich hinter dem Felsen, hinter dem sie Deckung gesucht hatten, signalisierte Kiina, ihm zu folgen, und ging los.
Sie kamen nur wenige Schritte weit.
Der Schatten stand jäh und wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen, und Skar begriff eine Sekunde zu spät, daß es nicht der Schatten einer Errish war. Ganz instinktiv duckte er sich und schlug aus der Bewegung heraus zu, aber der Schatten machte einen rasend schnellen Schritt zurück. Skars Hieb ging ins Leere, und gleichzeitig zuckte ein spinnendürrer Arm vor und packte sein Handgelenk.
Es war wie das Zuschnappen einer stählernen Fessel. Die Arme des Ultha waren lächerlich dünn, aber es war die fürchterliche Kraft eines Insekts, mit der er zupackte. Skar keuchte vor Schmerz und Überraschung, als er mit einem einzigen Ruck aus dem Gleichgewicht nach vorne und auf die Knie gerissen wurde, versuchte sich herum - und zur Seite zu werfen, um auf diese Weise dem Griff des Gegners zu entschlüpfen, und schrie ein zweites Mal auf. Das einzige Ergebnis seiner Bewegung war, daß er sich fast selbst den Arm ausgekugelt hätte. Dann packte die zweite Hand des Ultha, zu, ergriff seinen anderen Arm und drehte ihn brutal auf den Rücken. Skar wurde wie ein Spielzeug in die Höhe und herumgerissen. Hinter sich hörte er Kiina schreien, als auch vor ihr plötzlich ein sieben Fuß großer Gigant auftauchte und sie ebenso spielerisch überwältigte, und mit einem Mal waren überall Errish, das rote Lodern von Fackeln und Bewegung.
Skar wehrte sich wie ein Rasender, aber es war sinnlos; der Ultha verdrehte seinen linken Arm so erbarmungslos, daß er sich selbst das Gelenk gebrochen hätte, hätte er noch mehr Kraft eingesetzt, und seine andere Hand hing unverrückbar fest im Griff des Insektenwesens.
»Hör endlich auf, Skar«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Es ist sinnlos.«
Skar wehrte sich nur noch heftiger; aber bloß für einen Augenblick - dann verstärkte der Ultha den Druck auf seinen Arm für eine Sekunde bis zur Grenze des Erträglichen und noch ein Stück darüber hinaus, und Skar sank mit einem Schmerzensschrei in den schwarzen Spinnenarmen der Bestie zusammen. Der Ultha bewegte sich, wobei er Skar wie eine Puppe herumzerrte, so daß er jetzt auch erkennen konnte, wer es war, der zu ihm gesprochen hatte.
Es war Anschi. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, war kalt, aber auch spöttisch, und allein die Verachtung, die Skar in ihren Augen las, ließ seinen Zorn zu rasender Wut werden. Wieder bäumte er sich gegen den Griff des unheimlichen Wesens auf; mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß ihn ein spitzer Ellbogen aus Horn wie ein Keulenhieb in den Rücken traf und stöhnend in die Knie brechen ließ.
»Du solltest das wirklich nicht tun«, sagte Anschi kopfschüttelnd. »Er ist ungefähr siebzigmal so stark wie ein Mensch, weißt du? Du hast keine Chance.« Sie gab dem Ultha ein kaum sichtbares, rasches Zeichen mit der Hand, und das Insektenwesen zerrte Skar mit einem Ruck auf die Füße. Ein zweiter Wink, und der entsetzliche Druck auf seinen Arm ließ ein wenig nach. Nicht sehr, aber doch so viel, daß der Schmerz erträglich wurde. »Bist du jetzt vernünftig?« fragte Anschi.
»Nein«, stöhnte Skar. »Wenn ich das wäre, hätte ich dir gestern abend schon den Kopf heruntergeschossen, du Miststück!«
Anschi lachte, ein glockenheller, perlender Laut, der Skars Wut zur Raserei machte. Aber es war nur Zorn, das registrierte er trotz allem mit einem dumpfen Schrecken. Nicht jene brodelnde, unbezwingbare Wut aus seinen Träumen, die aus den Abgründen seiner Seele emporbrodelte und sein furchtbares Erbe erweckte, diese entsetzliche Kraft, die ihn zu einem Ding jenseits alles Menschlichen machte und es ihm - vielleicht - sogar ermöglicht hätte, den Ultha zu besiegen. Es war wie immer: Jetzt, wo er die schreckliche Kraft seines Dunklen Bruders wirklich gebraucht hätte, wo er sie haben wollte, ließ sie ihn im Stich. Das tötende Etwas in seinem Inneren war nichts, was er nach Belieben ein- und ausschalten konnte.
»Yul möchte dich sehen«, sagte Anschi.
»Dann sag ihr, daß es mir im Moment nicht paßt«, stöhnte Skar. »Sie soll sich von meinem Hofschreiber einen Termin geben lassen. So in zwei, drei Jäh -«
Anschi schlug ihm mit der flachen Hand so heftig über den Mund, daß seine Unterlippe aufplatzte. Aber es war sonderbar: Der Schmerz schürte Skars Zorn nicht noch mehr, sondern schaltete ihn regelrecht ab, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Ganz plötzlich erfüllte ihn eine tiefe, fast schon unnatürliche Ruhe. Er stellte seine sinnlose Gegenwehr endgültig ein, richtete sich auf, soweit es der Griff des Ultha zuließ, und blickte Anschi ruhig an. Und plötzlich begriff er auch, warum Anschi ihn haßte: Sie hatte Angst vor ihm. Sie hatte einen entsetzlichen Fehler begangen, und sie machte ihn dafür verantwortlich, und gleichzeitig fürchtete sie ihn; vielleicht auch nur den Ruf, der ihm vorauseilte. Sie tat ihm fast leid.