Er blickte direkt in Titchs Gesicht. Der Quorrl hockte vor ihm, stützte sein Körpergewicht mit der verletzten Hand am Boden ab und hielt ihm mit der anderen eine Flasche hin. Skar nahm sie, trank ein wenig und kämpfte sekundenlang mit aller Macht gegen den Brechreiz an, den das Schlucken in seiner Kehle auslöste. »Wie geht es Kiina?« fragte er mühsam.
»Warum schläfst du nicht ein wenig?« sagte Titch anstelle einer Antwort. »Es wird noch eine Stunde dauern, vielleicht auch zwei, bis sie hier sind.«
»Sie?«
»Deine zauberhaften Freundinnen«, antwortete Titch spöttisch. »Sie verfolgen uns. Schon seit Stunden.«
Skar wußte nicht, was ihn mehr irritierte: der ungewohnte Spott in Titchs Worten, oder die Tatsache, daß er nichts von irgendeiner Verfolgung bemerkt hatte. Er hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es Überlebende gegeben hatte.
»Wieviele?« fragte er.
Titch stand auf, befestigte die Feldflasche an seinem Gürtel und machte eine Kopfbewegung, ihm zu folgen. Es bereitete Skar unerwartet viel Mühe, sich zu erheben und hinter dem Quorrl herzugehen.
Die Sonne war mittlerweile völlig aufgegangen. Die Schatten waren noch lang und so tief, daß sie schwarze Schluchten in die Ebene zu brennen schienen, aber die Luft war trotzdem erstaunlich klar. Obwohl sie an die dreißig Meilen zurückgelegt haben mußten, konnte Skar das Meer sehen: ein dünner, fast übertrieben blauer Strich dicht vor dem Horizont, wie eine Trennlinie, die ein Maler zwischen Himmel und Erde gezogen hatte. Skar war sicher, daß er sich den klobigen schwarzen Schatten darauf nur einbildete; sie waren viel zu weit von der Küste entfernt, um den Dronte wirklich sehen zu können. Aber er wußte, daß er da war. Von irgendwelchen Verfolgern war keine Spur.
Titch deutete schweigend in den Himmel, und als Skar der Bewegung folgte, sah er einen winzigen, dreieckigen Schatten, dann, ein Stück tiefer und mehr zur Küste hin, einen zweiten und dritten. Daktylen.
»Warum stellst du keine Fragen?« sagte er, ohne Titch anzusehen.
Der riesige Quorrl zuckte mit den Schultern. »Wozu?« sagte er. »Du hast gesehen, was passiert ist. Du warst dabei«, fügte er nach sekundenlangem Zögern hinzu.
»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. »Du hast kein Wort gesprochen, seit wir geflohen sind. Du...«
»Was nutzen Fragen, wenn man die Antworten mit ins Grab nimmt?« unterbrach ihn Titch. »Wir haben dir und dem Mädchen das Leben gerettet, oder?«
»Ja und die meisten deiner Leute sind dabei getötet worden«, sagte Skar.
»Krieger sind zum Sterben da.«
Skar verzog geringschätzig die Lippen. Noch vor zwei Wochen hätte er dem Quorrl diese Antwort sogar geglaubt; schon weil es damals wirklich das gewesen war, was Titch empfand. Aber seither war viel geschehen. Titch war schon lange kein Quorrl mehr. In seinem Inneren hatte eine Veränderung begonnen, die den Quorrl von allen vielleicht am meisten selbst verwirrte.
»Das stimmt doch nicht«, sagte Skar sanft. »Du...«
»Du«, unterbrach ihn Titch betont, »und das Mädchen - ihr müßt leben. Wenn du das bist, wofür ich dich halte, Satai, dann war euer Leben das Opfer wert.«
»Wofür hältst du mich denn?« fragte Skar.
Titch antwortete nicht, und nach einer Weile drehte sich Skar einfach um und ging zu Kiina zurück.
Die Quorrl hatten den schmalen Felsspalt in eine kleine, aber fast uneinnehmbare Festung verwandelt - für einen normalen Gegner. Wie lange er einem Angriff zu allem entschlossener Errish standhalten würde, wagte er nicht zu prophezeien. Titch offensichtlich auch nicht, seinen Worten von eben nach zu schließen.
Skar verscheuchte den Gedanken und kniete neben Kiina nieder. Er erschrak erneut, als er in ihr Gesicht sah. Das Mädchen hatte hohes Fieber. Sie war bei Bewußtsein, aber ihre Augen waren verschleiert. Ein Teil ihres Haares war grau geworden. Skar wollte etwas sagen, aber der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Kiina starb, nicht irgendwann, sondern hier und jetzt, und er war hilflos. Es gab nichts, was er für sie tun konnte. Die einzigen Menschen, die ihr vielleicht hätten helfen können, waren vor sechs Stunden verbrannt.
»Was hat sie?«
Skar sah auf, machte eine angedeutete Geste zu Titch, ruhig zu sein, und entfernte sich ein paar Schritte. »Der Staub«, sagte er. »Staub?«
Skar sah den Quorrl einen Moment lang überrascht an, ehe er begriff, daß Titch ja von alledem nichts wußte. Als er Skar das letzte Mal gesehen hatte, waren er und Kiina gesund und munter auf die Rücken zweier Daktylen gestiegen.
»Dasselbe, was die Errish in Elay umgebracht hat«, antwortete er. »Sie hat es auch.«
»Und du ebenfalls«, vermutete Titch.
Skar nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Vielleicht«, sagte er. »Selbst Yul war nicht sicher. Aber ich glaube, ja.«
»Erzähl mir davon«, verlangte Titch.
Skar zögerte. Warum fragte Titch danach? Es gab hundert Fragen, die wichtiger waren, die dem Quorrl geradezu auf der Zunge brennen mußten. Wenn er sie nicht stellte, dann gab es dafür eigentlich nur zwei Erklärungen: Er hatte Angst vor Skars Antworten - oder er kannte sie bereits.
»Es war der Staub, der die Errish in Elay getötet hat«, wiederholte er. »Grauer Staub, der mit dem Wind kam...« Er erzählte Titch das wenige, was er von der Margoi erfahren hatte, und später von Yul. Titch hörte schweigend zu, aber Skar entging nicht der nachdenkliche Ausdruck, der mit einem Male in seinem Blick erschien. Doch der Quorrl sagte kein Wort, auch dann nicht, als er mit seinem knappen Bericht zu Ende gekommen war.
Skar wartete lange Zeit vergeblich, daß Titch das quälend werdende Schweigen brach, aber der Quorrl stand einfach nur da, schweigend, reglos, wie eine vierhundert Pfund schwere, lebende Statue aus Muskeln und Knochen und Panzerplatten. Warum sagt er nichts? dachte Skar. Warum stellt er nicht eine einzige Frage? Aber der Quorrl schwieg. Und als Skar aufsah und in die Gesichter der anderen Quorrl blickte, begriff er, daß sie jedes seiner Worte gehört und verstanden hatten. Titchs Leibgarde bestand nicht aus Barbaren, auch wenn ihr Äußeres diesen Trugschluß manchmal leicht werden ließ. Jeder dieser schuppigen Giganten war ein gebildetes, intelligentes Individuum, ein Krieger zwar, aber das war er auch.
Schließlich drehte er sich einfach um und ging zum zweiten Mal zu Kiina zurück. Während er mit Titch gesprochen hatte, war sie vollends erwacht. Sie wirkte noch ein bißchen benommen, aber sie erkannte ihn, als er sich neben ihr niederließ, und ihre gesprungenen Lippen verzogen sich zu einem mühsamen Lächeln.
»Was ist passiert?« fragte sie.
Seltsam. Wie oft hatte er diese Frage schon gehört? Es war ihm noch nie so schwergefallen, sie zu beantworten. »Der Dronte«, sagte er schleppend. »Er ... er drehte völlig durch, als er die Quorrl sah. Ich weiß nicht genau, warum.«
Was eine Lüge war - selbst Kiina, die Mühe hatte, aus eigener Kraft aufrecht zu sitzen, mußte es spüren. Sie wußte es, und er selbst wußte es, und Titch hatte nicht eine einzige Frage gestellt. »Sterben wir?« fragte Kiina plötzlich.
Skar sah sie gleichermaßen irritiert wie erschrocken an. »Sicher«, sagte er unsicher. »Wie jeder.«
»Jeder stirbt nicht hier und jetzt«, widersprach Kiina. »Es ist der Staub, nicht wahr? Die ... die Margoi hat die Wahrheit gesagt. Der Staub tötet uns.«
»Unsinn«, log Skar. »Du bist krank, aber das bin ich auch. Ich habe mehr von dem verdammten Zeug eingeatmet als du. Und mir geht es bereits besser.«
»Ja«, sagte Kiina sarkastisch. »Das sieht man. Du siehst aus wie das blühende Leben.«