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Kiina richtete sich halb auf ihrem Lager auf und hob die Hand, um sie dem Quorrl beruhigend auf die Schulter zu legen. »Bitte, Titch. Wir verstehen dich ja, aber...«

Titch stieß sie zurück. »Ihr versteht mich?« schnappte er. »Ihr versteht nichts! Ihr habt... habt... habt eine ganze Welt belogen! Ihr habt die Geschichte eines ganzen Planeten geändert, einfach so! Ihr habt uns unsere Welt gestohlen, unsere Heimat, und was das Schlimmste ist, unsere Erinnerungen. Aber du verstehst mich.«

»Kiina wollte dich nicht verletzen, Titch«, sagte Skar. Titch starrte ihn aus brennenden Augen an, und Skar spürte, wie lächerlich das Gesagte klang. Als ob Worte den Quorrl noch verletzen konnten, nach allem. Er wechselte abrupt das Thema und auch die Tonart: »Was wirst du jetzt tun?«

»Tun?«

Skar machte eine erklärende Handbewegung. »Deine Leute und du. Werdet ihr... gehen? Oder bleiben wir zusammen?«

Titch starrte ihn an. Blut tropfte von seiner Hand und besudelte Kiinas Decke, aber er bemerkte es nicht einmal. Sein fürchterliches Gebiß mahlte, als hätte er etwas gepackt und wäre dabei, es zu zerreißen. Der Quorrl war ein Raubtier, das begriff Skar plötzlich. Aber er begriff ebenso deutlich, daß er nicht das Recht hatte, so zu denken; so wenig, wie er das Recht hatte, über den Quorrl oder irgendeine andere denkende Lebensform Enwors zu urteilen. Sie waren die Eindringlinge: die Satai, die Errish, die Veden und Thbarg und alle anderen Völker, alle, sie alle, die sich für die rechtmäßigen Herren dieser Welt hielten. Wenn die Quorrl wirklich das waren, wofür Anschi und auch ein nicht zum Schweigen zu bringender Teil Skars war, nämlich Raubtiere, muskelbepackte Bestien, von denen nur die allerwenigsten zu logischem Denken und Handeln fähig waren, dann nur, weil sie sie dazu gemacht hatten.

»Ich weiß es nicht.« Titch stand auf und machte eine herrische Handbewegung. »Ich muß darüber nachdenken. Vielleicht ändert sich nichts. Vielleicht töte ich euch und diese verdammten Errish. Wir werden sehen.«

Er ging, aber nur ein paar Schritte weit, ehe er wieder stehenblieb und abermals die Fäuste ballte. Skar konnte sehen, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem gewaltigen Körper spannte. »Glaubst du, daß er das... ernst gemeint hat?« fragte Kiina stockend.

»Was? Daß er nachdenken muß - oder daß er uns vielleicht tötet?«

»Beides.«

Skar schwieg eine Sekunde und nickte dann. »Sicher.«

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn wir fliehen«, sagte Kiina unsicher.

»Fliehen?« Skar lachte fast. »Aber wohin denn?«

»Zu Anschi.«

Skar war nicht sicher, daß sie bei den Errish in geringerer Gefahr gewesen wären. Aber er verstand Kiinas Wunsch. »Du möchtest zu ihnen«, vermutete er. Kiina sah ihn nur wortlos an, aber er las die Antwort auf seine Frage in ihrem Blick. Zu der Verwirrung und dem Schmerz in ihren Augen hatte sich Furcht gesellt. Sie hatte Angst, dachte er. Natürlich hatte sie Angst. Nach dem, was sie im Laufe der letzten Stunde gehört hatte, mußte sie Angst haben. Und nicht nur vor den Quorrl.

»Wenn du willst, bringe ich dich zu ihnen«, sagte er.

»Titch wird es nicht zulassen.«

»Doch, das wird er.« Skar versuchte, mehr Optimismus in seine Stimme zu legen, als er selbst empfand. Aber er war nie ein sehr guter Lügner gewesen. »Er ist nur verwirrt. Und zornig. Und er hat ein Recht dazu, meinst du nicht?«

»Aber es... es kann nicht alles falsch sein!« protestierte Kiina verzweifelt. »Die Geschichte einer ganzen Welt kann nicht vollkommen erlogen sein, Skar!«

»Doch«, sagte er bitter. »Das kann sie, Kiina.« Und er glaubte sogar zu wissen, warum. Für einen Moment sah er es ganz deutlich vor sich: Sie, die von den Sternen gekommen waren, hatten die rechtmäßigen Besitzer dieser Welt am Ende besiegt, in einem Kampf, den er sich wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen vermochte. Vielleicht hatte der Krieg Tausende von Jahren gedauert, vielleicht nur wenige Tage. Die Sternengeborenen (seltsam, welch höhnischen Beiklang dieses Wort plötzlich in seinen Gedanken bekam) hatten am Schluß gesiegt - aber um den Preis der fast vollkommenen Zerstörung Enwors. Sie hatten die Welt erobert, aber sie hatten sie auch vernichtet, und sie hatten diese Lüge einfach ersinnen müssen, um weiterleben zu können. Was Titch grausam erschien, das war das einzige gewesen, was kommenden Generationen ein Weiterleben ermöglichte.

»Dann war... alles wahr?« stammelte Kiina. »Die Sternengeborenen... all diese Ungeheuer, die sie erschaffen haben... das war...«

»Unser Werk«, sagte Skar. »Das unserer Vorfahren. Ja. Aber es ist so unendlich lange her, daß es keine Rolle mehr spielt, Kiina. Es ist alles wahr, und doch wieder nicht. Enwor gehört längst nicht mehr ihm oder ihnen oder irgend jemandem. Wir leben schon zu lange zusammen, um uns einander unsere Welt streitig machen zu können.« Die Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren lahm und ungeschickt, aber Skar wußte, daß Kiina verstand, was er meinte. Was geschehen war, war Vergangenheit, Geschichte, und eigentlich nicht einmal mehr das, sondern nur noch die verblassende Erinnerung daran, ein düsteres Geheimnis, das von ein paar alten Frauen von Generation zu Generation weitergegeben wurde und irgendwann einmal ganz vergessen sein würde.

»Aber wieso greifen sie uns an?« fragte Kiina fast verzweifelt. »Wir sind ihre Schöpfer!«

»Das waren wir einmal«, antwortete Skar matt. »Vielleicht hat es eigenes Leben entwickelt, in all den Jahrtausenden. Vielleicht richtet es sich einfach blindwütig gegen alles, wie Feuer, das selbst den verzehrt, der es gelegt hat.«

»Oder jemand beeinflußt es, so wie es uns beeinflußt«, murmelte Kiina. Sie sah ihn aus weiten Augen an. »Aber wer?« Skar schwieg dazu. Nach einer Weile trat er wortlos unter der Zeltplane hervor und ging, um Titch zu suchen.

An ein Weiterreiten war an diesem Tag natürlich nicht mehr zu denken. Skar hatte ein paarmal versucht, mit Titch zu reden, aber der Quorrl hatte ihn einfach ignoriert, bis er sich schließlich so hilflos und dumm vorgekommen war, daß er zu Kiina zurückging. Er war müde - die durchrittene Nacht und die Strapazen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut, und dazu kam, daß sich sein Zustand im gleichen Maße verschlechterte, wie sich der Kiinas zu bessern schien: Am Nachmittag bekam er Fieber, und während Kiinas Kräfte von Stunde zu Stunde zunahmen, glaubte Skar innerlich zu verbrennen. Er bekam Schüttelfrost, und sein Zahnfleisch blutete. Und als er endlich einschlief, da träumte er wieder. Den gleichen, wirren, nur von Haß und zielloser Wut erfüllten Traum wie in den Nächten zuvor, der auf dieselbe, völlig unlogische Art zweigeteilt war: Während der eine - größere - Teil seines Bewußtseins hilflos in den Klauen des Alptraumes gefangen war, blieb der andere wach und registrierte und sah und hörte alles, was rings um ihn herum vorging.

Und doch war etwas an diesem Traum anders als an seinen Vorgängern, aber es dauerte eine Weile, bis Skar begriff, was es war: Er hatte sich getäuscht. Es war nicht die Wirklichkeit, die er mit dem vermeintlich klar gebliebenem Teil seines Bewußtseins wahrnahm. Auch heute schien er auf einer schmalen Grenzlinie zwischen zwei Welten dahinzutreiben, aber die eine war so irreal wie die andere: Da war der Alptraum mit seinem bösen Flüstern und Drängen (...so viel Haß, hatte die Margoi gesagt. So unendlich viel Haß...), und da war eine zweite Vision, nur war sie von solcher Klarheit und Schärfe, daß er sie für die wirkliche Welt gehalten hatte. Aber sie war es nicht. Er sah sich selbst, wie er auf dem schmalen Lager aus Decken und Fellen lag, das Kiina für ihn bereitet hatte, aber der schlafende Schatten neben ihm war nicht Kiina; als er sich zu ihm herumdrehte, starrte er in eine flache schwarze Fläche aus glitzerndem Chitin, wo ein Gesicht sein sollte, und die Hand, die wie in einer bösen Verhöhnung menschlicher Gestik unter der Decke hervorkroch und einen rasiermesserscharfen Krallenfinger über nicht vorhandene Lippen legte, war keine Hand, sondern eine dreifingrige Forke, die nur zum Töten gemacht war.