Ein Schatten vertrat ihnen den Weg, als sie Anschis Lager näher kamen. Skar hörte schwarzen Stoff rascheln, dann blitzte silberfarbenes Metall im Sternenlicht. Er spannte sich, aber dann erkannte die Errish Kiina oder ihn und trat wortlos zur Seite. Ein titanischer Schatten faltete lautlos seine Schwingen über ihnen zusammen, als sie den Posten passierten und das eigentliche Lager betraten.
Es war sehr still. Die meisten Errish schienen zu schlafen, nur vor dem Feuer hockten drei zusammengekauerte Schatten, und auf den Felsen, die das Lager überragten, erhob sich eine menschliche Silhouette zwischen den monströsen Umrissen der Daktylen. Von dem Streit, von dem Kiina berichtet hatte, sah und hörte Skar jedenfalls nichts.
Eine der kauernden Gestalten erhob sich, als sie ihre Schritte hörte. Im düsteren Rot des heruntergebrannten Feuers erkannte Skar Anschis müdes Gesicht. Sie sagte kein Wort, sondern machte nur eine sonderbar matte Bewegung zum Feuer hin, setzte sich wieder und reichte Skar wortlos eine lederne Flasche und ein kleines Holzbrett, auf dem sich ein Rest kalten Bratens befand. Skar bediente sich von beidem, obwohl er weder hungrig noch durstig war. Aber er spürte, daß es besser war, wenn er Anschi reden ließ. Sie hatte nicht die mindeste Spur von Überraschung gezeigt, ihn zu sehen; Kiinas Behauptung, sie wüßte nicht, daß sie sich fortgeschlichen hatte, um ihn zu warnen, war wohl eher Wunsch als Wirklichkeit gewesen.
»Wozu hast du dich also entschieden?« fragte sie nach einer Weile.
Skar ließ die Flasche sinken und sah Anschi über die prasselnden Flammen hinweg nachdenklich an. Die Direktheit, mit der sie zur Sache kam, überraschte ihn ein wenig. Sie paßte nicht zu der Anschi, die er bisher kennengelernt hatte. Aber vielleicht war sie einfach zu müde für lange Vorreden.
Er zuckte mit den Schultern. »Die Frage ist wohl eher, wie du dich entschieden hast«, sagte er.
Anschi lächelte müde und warf Kiina einen amüsierten Blick zu. »Sie hat dir erzählt -?«
»Das hat sie«, bestätigte Skar. »Aber es wäre nicht nötig gewesen.«
Anschis Blick wurde fragend, und Skar fügte erklärend hinzu: »Du bist nicht die einzige, die schlechte Träume hat.«
»Es sind nicht nur die Träume«, widersprach Anschi, aber ohne Nachdruck und erst nach einer geraumen Weile, in der sie aus blicklosen Augen in die Flammen gestarrt hatte.
»Sondern?«
Wieder schwieg Anschi für endlose Sekunden, die sich zu einer Minute reihten, dann noch einer und noch einer. »Ich weiß es nicht«, gestand sie schließlich. »Ich...« Sie zögerte, sah Kiina an und sprach erst weiter, als Skar ihr mit einem Nicken signalisierte, daß er keine Geheimnisse vor ihr hatte. Aber auch dann nicht sofort - sie sah auf, wandte sich mit an die beiden Errish neben ihr und sagte ein Wort, das Skar nicht verstand. Die beiden jungen Frauen standen auf und gingen wortlos davon, und Anschi wartete, bis sie außer Hörweite waren.
»Du hast recht, Skar - ich spüre es auch. Wir alle spüren es. Etwas... verändert uns. Und nicht nur uns. Das ganze Land ist eine Hölle. Jeder kämpft gegen jeden. Etwas schleicht sich in unsere Träume, und es... beeinflußt uns. Und es wird schlimmer.«
Skar dachte an das, was Anschi ihm vor wenigen Stunden über Thbarg und das Drachenland erzählt hatte. War es die gleiche, böse Macht, die auch die Menschen - und Tiere - dort veränderte, dasselbe tödliche Flüstern, das ganz allmählich auch seine Seele zu vergiften begann?
»Wie lange weißt du es schon?« fragte er.
»Lange«, gestand Anschi. »Vom ersten Tag an. Es begann, als der Wächter nach Elay kam. Vielleicht schon früher. Aber ich dachte bisher, wir wären immun dagegen. Wir sind Errish!« Der letzte Satz klang gleichzeitig stolz wie auch nach einer Verteidigung. Skar antwortete nicht. Und auch Anschi verfiel für lange Sekunden wieder in quälendes Schweigen.
Skar spürte, daß sie innerlich nicht halb so ruhig war, wie es den Anschein hatte. Hinter der Maske aus Erschöpfung und Ruhe brodelte es, und Skar dachte voller Sorge an die fast zwei Dutzend schlafender Errish, die vielleicht in genau diesem Augenblick dem bösen Flüstern der Träume ausgesetzt waren. Er wußte, daß sein Vorhaben gescheitert war, noch bevor Anschi weitersprach. Er kämpfte gegen einen Feind, der mit Worten nicht zu besiegen war. Aber mit Waffen auch nicht.
»Wir können nicht zusammen bleiben«, sagte Anschi nach einer Weile. »Ihr ... ihr dürftet nicht einmal dort oben sein. Wenn diese Quorrl wirklich deine Freunde sind, wie du behauptest, dann schick sie weg, Skar. Noch bevor die Sonne aufgeht.«
»Kiina hat mir erzählt, daß du deine Mädchen zurückgehalten hast.«
»Ich weiß nicht, wie lange noch. Noch gehorchen sie mir, aber ...« Anschi sprach nicht weiter, sondern hob einen dürren Ast auf, zerbrach ihn in kleine Stücke und warf sie ins Feuer. »Es sind nicht nur die Träume, Skar«, sagte sie. »Sie können nicht vergessen, was gestern geschehen ist. Und ich auch nicht.«
»Es war nicht Titchs Schuld.«
Anschi lachte leise. »Als ob das eine Rolle spielt«, sagte sie. »Die Quorrl und wir sind Feinde, verstehst du das nicht? Wir waren es immer, und wir werden es immer sein, ganz egal, was passiert. Du weißt, warum.«
Ja, dachte Skar. Weil ihr die Wahrheit kennt. Weil ihr wißt, daß die Quorrl im Recht sind, und wir die Eindringlinge. Die Diebe. Und deshalb haßten sie sie. Er sprach es nicht laut aus, aber Anschi schien seine Gedanken deutlich auf seinem Gesicht zu lesen, denn plötzlich mischte sich Zorn in die Müdigkeit auf ihren Zügen. »Es sind nicht nur die Träume«, sagte sie zornig. »Ich sagte es bereits: wir sind Errish. Wir sind nicht so leicht zu beeinflussen wie deine Quorrl-Freunde oder ein paar Tiere. Die Mädchen können nicht vergessen, was geschehen ist. Yul und die meisten meiner Schwestern sind tot.«
»Es war nicht ihre Schuld«, wiederholte Skar.
»Es geschah, weil sie da waren«, beharrte Anschi. »Sie haben alles zerstört, wofür wir in den letzten Monaten gekämpft haben, und es spielt überhaupt keine Rolle, warum und wie. Selbst wenn ich dir helfen wollte, Skar, ich könnte es nicht einmal. Schon heute fiel es mir schwer, sie zurückzuhalten. Ich bin nicht Yul.«
Die Offenheit dieses Eingeständnisses überraschte Skar. »Du widersprichst dir selbst«, sagte er ruhig. »Du -«
»Es bleibt dabei, sie müssen gehen«, unterbrach ihn Anschi. »Dann begleite ich sie.«
Anschi seufzte. »So weit waren wir schon einmal, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht«, sagte sie abfällig.
»Seither hat sich nichts geändert. Jedenfalls nicht für mich.«
»O doch, das hat es«, widersprach Anschi aufgebracht. »Etwas... geschieht hier, Skar. Etwas hat sich verändert, und ich weiß, daß du es ebenso deutlich fühlst wie ich.«
Skar sah nach Süden, wo die Ebene lag, verborgen hinter den Schleier der Nacht, und er dachte an die Woge lebendig gewordener Finsternis, die er in seinem Traum gesehen hatte. Es war keine Einbildung gewesen. Der Daij-Djan hatte versucht, ihm etwas zu zeigen, nur war er nicht in der Lage, es zu erkennen. Noch nicht. Er hoffte, daß es nicht zu spät war, wenn er es erkannte.
»Das ist dein letztes Wort?« fragte Anschi in das immer unangenehmer werdende Schweigen hinein.
Skar konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben, aber er wußte, was sie meinte, und nickte stumm.