Kiina fuhr herum, aber Skar hielt sie am Arm zurück. »Wo willst du hin?«
»In die Höhlen!« antwortete Kiina. Sie versuchte sich loszureißen, aber Skar hielt sie fest. »Es gibt einen Eingang unten in den Kellern des Palastes! Ich zeige ihn dir!«
»Ich kenne einen kürzeren Weg«, antwortete Skar.
Kiina sah ihn verwirrt an. »Du -?«
Skar ließ ihre Hand los, wandte sich um und ging auf den Thronsessel der Margoi zu. Das wuchtige, aus einem einzigen übermannshohen Basaltblock herausgemeißelte Möbelstück mit den beiden drohend hochgereckten Drachenschädeln als Armlehne war mit einer grauen Staubschicht bedeckt, wie alles hier drinnen, aber Skar sah auch, daß sie nicht halb so dick war wie auf dem Boden. Und keineswegs unversehrt. Jemand hatte versucht, die Schleifspuren beiderseits des Thrones zu entfernen, sich aber dabei nicht besonders geschickt angestellt. Skar wunderte sich ein wenig, daß ihm das nicht sofort aufgefallen war. Offensichtlich hatte ihn der Marsch durch die tote Stadt doch nicht ganz so unberührt gelassen, wie er sich selbst eingeredet hatte.
Kiina beobachtete ihn mit wachsender Verblüffung, während er sich vor dem Thron auf die Knie sinken ließ und mit spitzen Fingern über den rechten der beiden Drachenköpfe tastete. Gowenna hatte ihm den verborgenen Mechanismus gezeigt, aber es war lange her, und es war fast im Spiel gewesen; er hatte nicht sehr gut aufgepaßt, denn sie wie er hatten gewußt, daß er nicht zurückkommen würde.
Aber woran sich seine Gedanken nicht mehr erinnerten, hatten seine Hände nicht vergessen. Seine Finger drückten auf einen der schwarzen Drachenzähne und fanden wie von selbst in den richtigen Rhythmus: Aus dem Inneren des Thrones erklang ein helles, aber durchdringendes Schnappen, und plötzlich bewegte sich der tonnenschwere Block um ein winziges Stück. Skar drückte mit der Schulter gegen den Sockel des Thrones, und er bewegte sich abermals; aber nicht sehr weit und nicht so leicht, wie er es sollte. Zwischen dem Fuß des Thronsessels und den steinernen Bodenfliesen entstand ein haarfeiner, dunkler Riß. Staub rieselte hindurch und verschwand lautlos in der Tiefe.
Kiina sog überrascht die Luft ein und wollte eine Frage stellen, aber Skar schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.
»Hilf mir«, sagte er. »Der Mechanismus scheint verklemmt zu sein.«
Kiina gehorchte. Selbst zu zweit überstieg es fast ihre Kräfte, den Riß im Boden so weit zu verbreitern, daß Skar hindurchsehen konnte. Im ersten Moment erkannte er nichts, aber nachdem sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glaubte er einen schwachen, rötlichen Lichtschimmer weit unter sich auszumachen. Der Schein einer Fackel, gedämpft oder sehr weit entfernt.
»Was ist das?« fragte Kiina fassungslos.
Skar stemmte sich abermals gegen den Thron und schob mit aller Kraft. »Ein geheimer Gang, der direkt in die Katakomben führt«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Die Erbauer dieses Palastes waren offensichtlich nicht ganz so sehr von der Unantastbarkeit seiner Bewohner überzeugt wie sie selbst. Von hier aus führt eine Treppe direkt in die Drachenhöhlen.«
»Davon wußte nicht einmal ich«, sagte Kiina staunend.
»Deine Mutter hat sie mir gezeigt, als ich hier war.« Skar hörte für einen Moment auf zu schieben und zu drücken, atmete tief ein und warf sich dann noch einmal mit aller Kraft gegen den Thron. Ein helles, in Ohren und Zähnen schmerzendes Kreischen erklang - und plötzlich glitt der Thron so leicht und schnell nach hinten, daß Kiina Skar am Gürtel festhalten mußte, damit er nicht kopfüber in die Tiefe fiel.
Skar richtete sich ungeschickt auf, nickte Kiina dankbar zu und hustete. Ihre Bewegungen hatten den Staub wieder aufgewirbelt, und Skar registrierte beunruhigt, wie bitter und scharf er schmeckte; völlig anders als alles, das er je kennengelernt hatte. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht in der Luft, um nicht mehr von dem Zeug einatmen zu müssen als unbedingt nötig und forderte Kiina mit Gesten auf, loszugehen. Sie zögerte nur einen kurzen Moment, dann setzte sie den Fuß auf die oberste Stufe und verschwand rasch in der Tiefe.
Skar fluchte lautlos in sich hinein, als er ihr folgte. Der zweite Fehler: er hatte vergessen, wie eng die gewendelte Treppe war. Die Stufen führten beinahe senkrecht in die Tiefe, und sie waren so schmal, daß Skar nicht einmal gerade gehen konnte und es ihm schlichtweg unmöglich war, sich an Kiina vorbeizudrängen. Der Gedanke, sie vorausgehen zu lassen, gefiel ihm nicht besonders. Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren dort unten auf sie lauern mochten. Aber es war zu spät, den Fehler zu korrigieren.
Kiinas Schatten verschluckte den ohnehin schwachen Lichtschimmer unter ihnen, so daß Skar sich durch fast vollkommene Dunkelheit bewegte; was aber kein Problem war - der Treppenschacht war so schmal, daß er ohnehin mit beiden Schultern an der Wand entlangstreifte und kaum die Gefahr bestand, zu stolpern. Er versuchte die Stufen zu zählen, um nicht vollends die Orientierung zu verlieren, gab es aber bald wieder auf; zum einen geriet er unentwegt aus dem Takt, denn die Stufen waren unterschiedlich hoch und breit, so daß ein rhythmisches Gehen unmöglich wurde, und zum anderen kannte er diesen geheimen Fluchtweg sowieso und wußte, daß es keinerlei Abzweigungen oder Türen gab, bis hinab ins Kellergeschoß des Palastes, wo er in die Verliese mündete; und wahrscheinlich auch in den Gang, den ihm Kiina hatte zeigen wollen.
Der Weg schien endlos zu sein. Das Licht unter ihnen wurde nur ganz allmählich stärker, und während Kiinas Gestalt sich allmählich als schwarzer Umriß vor ihm aus rötlicher Glut herauszuschälen begann, begriff Skar, daß er sich getäuscht hatte: Es war nicht der Schein einer Fackel; dazu war das Licht zu gleichmäßig und zu düster, ein dunkles Rot wie von nur noch halb glühender Lava. Er erwog diesen Gedanken sekundenlang und verwarf ihn wieder. Die Luft, die ihnen aus der Tiefe entgegenströmte, war kalt.
Schließlich weitete sich der Treppenschacht zu einer halbrunden, gut fünfzig Fuß messenden Halle, die in eben jenem Rot glühte, das sie von oben gesehen hatten. Skar trat rasch an Kiina vorbei und atmete innerlich auf, froh, aus der erstickenden Enge des Treppenschachtes heraus zu sein. Kiina taumelte vor Erschöpfung, und auch Skars Knie zitterten spürbar. Das Gehen auf den ungleichmäßigen Stufen war sehr kräftezehrend gewesen.
»Was ist das hier?« fragte Kiina. Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken.
Skar zuckte wortlos mit den Schultern. Ein einziges Mal war er hier gewesen, vor Jahren, aber damals hatte es dieses rote Glühen nicht gegeben. Gowenna und er hatten die Halle im Schein einer ganz normalen Fackel durchquert, und noch dazu sehr schnell, denn es gab hier nichts, was betrachtenswert gewesen wäre. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Dieses Licht...« Es war ein sonderbares Licht, ein düsterer roter Schein, der Assoziationen an Flammen und Hitze weckte, aber kalt war und ihn mit instinktivem Unbehagen erfüllte. Vielleicht, weil er seine Quelle nicht ausmachen konnte. Die Luft selbst schien in dieser roten Glut zu erstrahlen. Wenn man nur lange genug hinsah, dann glaubte man ein schwaches Pulsieren in der Helligkeit wahrzunehmen.
»Das meine ich nicht«, antwortete Kiina. »Das Licht ist normal. Ich meine den Raum.«
»Das nennst du normal?« ächzte Skar.
Kiina machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir benutzen es nie, aber du kannst jeden Raum im Palast auf diese Weise beleuchten«, sagte sie. »Und in fast jeder beliebigen Farbe. Ein Zauber der Alten.« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst beiläufig klingen zu lassen, aber Skar spürte, mit welchem Stolz es sie erfüllte, ihm dieses Geheimnis zu verraten. Ihm selbst bereitete es eher Furcht.