»Was ist passiert?«
Skar sah nach draußen, ehe er antwortete. Der Morgen war so ruhig, wie die zweite Hälfte der Nacht gewesen war. Er hatte damit gerechnet, daß die Errish nicht nur die Höhle, sondern den gesamten Berg Zentimeter für Zentimeter untersuchen und nötigenfalls jeden Stein umdrehen würden, wenn sie endgültig begriffen, daß er nicht mehr da war. Aber das Gegenteil war der Fall gewesen: vier von Anschis Mädchen waren gekommen und hatten den Quorrl in Titchs Rüstung ächzend davongeschleppt, und das war alles.
»Was ist passiert?« fragte Titch noch einmal. Skar sah auf und erkannte, daß er ein herumliegendes Kleidungsstück aufgehoben und flüchtig um die Hüften geschlungen hatte. Er sah lächerlich darin aus.
Skar hob die Hand und streckte Zeige- und Mittelfinger aus. »Du schuldest mir jetzt zwei Leben.« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht richtig. Beinahe verlegen stand er auf, ging zum Ausgang und blinzelte aus tränenden Augen hinaus. Er war müde, denn natürlich hatte er es nicht gewagt, in seinem Versteck im Stein zu schlafen; ganz davon abgesehen, daß er auch kaum Schlaf gefunden hätte.
»Was... ist... geschehen?« fragte Titch zum dritten Mal und in völlig verändertem Tonfall. Seine Stimme klang herrisch, fordernd, fast drohend. Es war nichts Unterwürfiges oder auch nur Trotziges darin. Der Quorrl, der jetzt zu ihm sprach, war wieder der alte Titch, der Fürst seines Volkes, der es gewohnt war, zu befehlen, und ganz bestimmt nicht, einen Menschen um irgend etwas zu bitten. Er hörte Titchs Schritte hinter sich, und eine Sekunde später legte sich Titchs gesunde Hand auf seine Schulter, so fest, daß er um ein Haar vor Schmerz aufgestöhnt hätte.
Bevor Titch ihn herumreißen konnte, drehte sich Skar mit einer erzwungen ruhigen Bewegung zu ihm um. Titch stand ganz dicht hinter ihm und starrte auf ihn herab, und für einen Moment, das spürte Skar ganz deutlich, waren sie wieder Feinde; nicht mehr Skar, der Satai, der längst kein Satai mehr war, und Titch, der Quorrl, der längst kein Quorrl mehr war, sondern nurmehr Mensch und Quorrl, Sternengeborener und rechtmäßiger Herrscher dieses Planeten, Feinde von Geburt an, die so verschieden waren, daß ein Zusammenleben einfach nicht möglich war, so wenig, wie Feuer und Wasser gemeinsam existieren konnten. Er spürte genau, daß Titch ihn in diesem Moment haßte, und auch er haßte den Quorrl, fühlte für eine einzige, aber fürchterliche Sekunde nichts anderes als den Wunsch, seine Pranke beiseite zu schlagen und das Schwert zu ziehen, um ihn zu (Töte! wisperten seine Gedanken. Vernichte ihn! Töte! Töte! Tötet) zu schlagen, ihn niederzuwerfen und diesem verdammten Tier zu zeigen, wer der wahre Herr hier war, wie wenig - Seine Hand packte Titchs Klaue und umklammerte sie mit aller Macht, aber er merkte es nicht einmal. Die Panzerschuppen des Quorrl knirschten unter seinem Griff. Blut quoll unter Skars Fingernägeln hervor, und die Kraft seiner Finger mußten selbst Titch Schmerzen zufügen, denn die Augen des Quorrl zogen sich überrascht zusammen, aber Skar registrierte von alledem kaum etwas. Töte! schrien seine Gedanken. Vernichte ihn! Zerstöre! Töte! »Nein!« stöhnte Skar. Er wankte. Titchs Finger lösten sich von seiner Schulter, aber Skar ließ seine Hand nicht los, sondern drückte im Gegenteil noch fester zu, bis der Schmerz in seinen eigenen Fingern schier unerträglich wurde.
Vielleicht war er es, der ihn rettete. Skar hatte gelernt, selbst Schmerz zu etwas Positivem zu machen, ihn zu nutzen, sich an ihn zu klammern wie an ein Rettungsseil, statt vor ihm zu fliehen, wie ihm seine Instinkte befehlen wollten. Es war nicht das erste Mal, daß er sich wie an einer Nabelschnur aus Agonie in die Wirklichkeit zurückhangelte, nur, daß er jetzt nicht gegen Bewußtlosigkeit oder ihren dunklen Bruder Tod ankämpfte, sondern gegen etwas Schlimmeres, gegen den Wahnsinn, mit dem die Magie der Sternengeborenen seinen Geist in etwas Fremdes, unsagbar Fremdes und Mörderisches verwandeln wollte.
Er taumelte, fiel auf die Knie und preßte die blutende Hand gegen den Leib. Titch wollte abermals nach ihm greifen, und Skar schlug seine Hand beiseite, obwohl er spürte, daß der Quorrl ihm nur helfen wollte. »Nicht«, stöhnte er. »Faß mich... nicht an.«
»Was ist mit dir?« fragte er alarmiert.
Der Schmerz in Skars Hand ebbte ganz allmählich ab, und im gleichen Maße wurden die Wogen aus roter Wut flacher, die seinen Geist zu verschlingen drohten. Trotzdem blieb er minutenlang am Boden hocken, die Hand zur Faust geballt, so fest er konnte, so daß das Blut weiter aus seinen zerbrochenen Fingernägeln lief und der Schmerz immer wieder neu aufloderte, bis er es wagte, sich ganz allmählich zu entspannen; aber vorsichtig, behutsam und jederzeit auf einen neuen, heimtückischen Angriff seiner eigenen Gedanken gefaßt.
Titch sah ihn voller Mißtrauen an, als er sich nach einer Weile aufrichtete und gleich darauf erschöpft gegen die Wand sinken ließ. Wie fast immer in letzter Zeit, wenn er sich einer großen körperlichen Anstrengung ausgesetzt hatte, wurde ihm erst schwindelig und dann schlecht, aber diesmal wehrte Skar sich nicht dagegen, denn die Übelkeit erstickte auch gleichzeitig die Wut, die noch immer wie ein kleines rotes Raubtier in einer Ecke seiner Gedanken nistete.
»Was war das?« fragte Titch.
Skar zuckte mit den Schultern und wollte einfach den Kopf schütteln, aber dann tat er es nicht. »Nichts«, sagte er spöttisch. »Ich hatte nur Lust, dich ein bißchen umzubringen.«
Titchs Stirnrunzeln vertiefte sich, aber der Quorrl schwieg. »Es sind... die Träume«, fuhr Skar fort, stockend, mit trockener Zunge, die seinem Willen nicht mehr richtig gehorchte, als gäbe es da eine Macht in seinem Inneren, die verhindern wollte, daß er dem Quorrl alles erzählte. Aber er mußte es. Vielleicht war der Moment nicht mehr fern, in dem er Hilfe brauchte, um mit dem Ungeheuer fertig zu werden, dessen Embryo die Sternengeborenen in seinen Geist gepflanzt hatten. »Es ist dasselbe, was Anschi passiert ist«, sagte er. »Und Kiina und den Errish in Elay - und vermutlich auch dem Rest der Welt, Titch. Es wird... stärker.«
»Du meinst, du spürst es jetzt auch schon, wenn du wach bist.« Skar nickte. Die ungeheure Tragweite dessen, was er gerade selbst ausgesprochen hatte, ließ ihn schaudern. Wie lange noch? dachte er. Wie lange würde es noch dauern, bis ganz Enwor in einem gewaltigen Taumel aus Blut und zielloser Gewalt versank? »Es ist ein Teil von alledem, nicht wahr?« Titch machte eine weit ausholende Handbewegung, und Skar nickte abermals, zuckte dann mit den Schultern und schüttelte schließlich hilflos den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Aber ich fürchte es. Wahrscheinlich. Vielleicht wird es nur stärker, weil wir uns ihrer Heimat nähern. Aber vielleicht gehört es auch dazu.«
Es gab kein vielleicht. Skar wußte, daß Titch hundertprozentig recht hatte. Was ihre Gedanken vergiftete, das war genauso Teil jenes unvorstellbaren Verteidigungsmechanismus, den ihre Vorfahren erschaffen hatten, wie der Dronte, das Netz und die Ultha und alle anderen Schrecken, die noch auf sie warten mochten. Eine Waffe, die nicht greifbar, dafür aber um so fürchterlicher war, denn sie zerstörte ihre Seelen. Vielleicht war es ihr letzter, verzweifelter Versuch gewesen, damals in ihrem unerbitterlichen Kampf gegen die wahren Herrscher dieser Welt: eine Waffe, die Krieger aus Männern und Frauen und Kindern machte.
»Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte Titch auf seine gewohnte, pragmatische Art. »Es vernichtet euch, nicht uns.«
Skar antwortete nicht, aber er wußte, daß Titch die Antwort so gut kannte wie er. Es ergab sehr wohl Sinn, denn es brachte sie dazu, die Quorrl zu hassen.