»Es ergibt auch keinen besonderen Sinn, wenn wir weiter hier bleiben«, sagte er, nur um das Thema zu wechseln. »Besorg' dir etwas zum Anziehen, und dann weck' diese Schlafmützen auf. Ich habe keine Lust, noch eine Nacht in diesem Loch zu verbringen.« Titch lächelte pflichtschuldig, und er versuchte sogar, seine grobschlächtigen Gesichtszüge zu etwas zu verziehen, das den Eindruck erweckte, daß er auf Skars scherzhaften Ton einging. Aber sein Blick blieb ernst, fast - nein, dachte Skar, nicht nur fast, sondern ganz eindeutig - besorgt. Trotzdem wandte er sich nach einer Weile gehorsam um und bückte sich nach den Kleidern, die Skar Jarr am vergangenen Abend ausgezogen hatte.
Skar sah ihm einen Moment schweigend zu, dann wandte er sich um und ging wieder zum Ausgang der Höhle zurück. Sein Blick suchte das Lager der Errish, und er begriff mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß sie noch andere Feinde hatten als seine Gedanken. Ganz konkrete und sehr faßbare Feinde, von denen zwei wie riesige schwarze Vögel mit zusammengefalteten Schwingen auf den Felsen unter ihnen saßen, so nahe, daß er sich zum wiederholten Male fragte, wieso sie nicht längst auf den Gedanken gekommen waren, die Höhle noch einmal und gründlicher zu durchsuchen.
Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, blinzelte ein paarmal, um die Tränen fortzubekommen, die ihm das ungewohnt grelle Tageslicht in die Augen trieb, und spähte konzentriert nach unten. Bis auf die beiden schlafenden Daktylen schien das Lager der Errish verlassen zu sein. Er konnte das grob geformte Oval aus Felsen nur zur Hälfte einsehen, aber das Feuer war heruntergebrannt und erloschen, und von Anschis Mädchen war keine Spur mehr zu erblicken. Während der letzten Stunden der vergangenen Nacht hatte die Luft über den Bergen von den Flügelschlägen der Daktylen nur so geschwirrt, denn Anschis Reiterinnen waren mit dem ersten Grau der Dämmerung in alle Richtungen ausgeschwärmt, um ihn zu suchen. Jetzt war es fast unheimlich still. Die beiden riesigen Drachenvögel dort unten schienen zu schlafen. Aber ihre Reiterinnen sonderbarerweise auch.
Skars Blick tastete über das Gewirr von Schatten und bizarren Felsformen, die das Lager der Errish umgaben. Wäre er dort unten gewesen, dann hätte er sich eine Deckung gesucht und in aller Ruhe abgewartet; das Vorgebirge bot ausreichend Verstecke, um eine ganze Armee zu verbergen. Aber gleichzeitig spürte er, daß es nicht so war. Skar wußte stets, wenn er beobachtet wurde. Es war ein Teil seiner Ausbildung gewesen, Blicke einfach zu spüren, und er hatte diese Fähigkeit im Laufe der Jahre sorgsam weiterentwickelt. Sie hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Jetzt fühlte er... nichts.
Nach einer Weile trat Titch wieder neben ihn. Sekundenlang blickte er genau wie Skar konzentriert auf das verlassene Lager der Errish herab, dann machte er eine auffordernde Handbewegung. »Vielleicht verrätst du mir jetzt, was passiert ist?«
»Warum erzählst du mir nicht einfach, was los war - und ich steuere den Rest bei?« schlug Skar vor.
Titch seufzte. »Ihr Menschen redet zu viel, weißt du das ?« fragte er. Er machte eine unwillige Geste, als Skar antworten wollte. »Aber gut - es ist ohnehin nicht viel. Du warst nicht lange fort, gestern abend, als der Posten ein verdächtiges Geräusch hörte. Ich wollte hingehen, aber ich kam nicht einmal einen Schritt weit. Etwas ... traf meine Krieger und dann mich. Ich weiß nicht was. Ich habe nicht einmal richtig begriffen, daß wir angegriffen wurden.« Er zog eine Grimasse. »Ich werde leugnen, es jemals zugegeben zu haben, solltest du es vor Fremden wiederholen, aber ich bin noch niemals so übertölpelt worden wie gestern.«
»Ich auch nicht«, sagte Skar. »Es war kein Zufall, weißt du? Kiina ist aus dem einzigen Grund gekommen, mich fortzulocken. Sie schlug mich nieder, als ich zu euch zurückkehren wollte.« Titchs Gesicht verfinsterte sich, und Skar fügte fast hastig hinzu: »Es war nicht ihre Schuld. Sie wußte nicht, was sie tat.«
»Sagst du das, weil du es glaubst oder weil du es glauben möchtest?«
Skar lächelte. »Beides. Ich habe gesehen, was danach geschah. Kiina schlug mich nieder, aber sie beging den Fehler, sich nicht davon zu überzeugen, daß ich auch wirklich ausgeschaltet war.« Er hatte das absurde Gefühl, daß Titch die Lüge mühelos durchschauen mußte, und sprach schneller und deutlich unsicherer weiter, als ihm selbst lieb war. Mit wenigen, knappen Sätzen berichtete er Titch, was er beobachtet hatte, wobei er nur zweierlei wegließ : seine neuerliche Begegnung mit dem Daij-Djan und seine Beobachtung, die Zauberpriester fliegen zu sehen. Das eine, fand er, ging Titch einfach nichts an. Und das andere hätte er ihm wahrscheinlich nicht geglaubt.
»Sie werden Jarr töten«, sagte Titch ruhig, als er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. »Sie werden den Betrug durchschauen und ihn umbringen.«
Skar wich seinem Blick aus. »Vielleicht«, antwortete er. »Vielleicht auch nicht. Anschi ist keine Mörderin.«
Titch lachte rauh. »Du verteidigst sie immer noch - nach allem?«
»Der Zauberpriester gab ihr den Befehl, deine Leute zu fesseln, damit die Raubtiere sie töteten«, sagte Skar scharf. »Sie hat es nicht getan, oder?«
»Richtig«, bestätigte Titch. »Erinnere mich daran, daß ich mich bei ihr bedanke, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«
Der Spott des Quorrl schürte Skars Wut schon wieder - aber es war nur ganz normaler Zorn, aus Unsicherheit und Müdigkeit geboren, nicht das verzehrende Feuer der flüsternden Träume. Er kämpfte nicht dagegen an. »Was hätte ich tun sollen?« fragte er gereizt. »Zusehen, wie sie dich wegbringen? Oder ganz allein gegen sie alle kämpfen? Verdammt noch mal, soll ich mich vielleicht bei dir dafür entschuldigen, daß ich dir das Leben gerettet habe?« Und vielleicht war es genau das, was er hätte tun sollen, dachte er. Es waren Momente wie diese, die Skar immer wieder schmerzhaft daran erinnerten, daß Titch ein Todgeweihter war, so wie jeder einzelne Krieger in seiner Begleitung. Nach den komplizierten Ehrenregeln seines Volkes hätte der Quorrl seinem Leben schon vor Wochen ein Ende setzen müssen, und er hätte es getan, hätte Skar ihn nicht mit Gewalt daran gehindert. Das Leben, das er seither lebte, hatte Skar ihm abgetrotzt. Aber irgendwann, das wußte er, war sein Kredit bei dem Quorrl aufgebraucht.
»Entschuldige«, murmelte er. »Das wollte ich nicht sagen.«
»Warum hast du es dann getan?«
Statt zu antworten, deutete Skar mit einer Kopfbewegung auf die vier Quorrl hinter Titch. »Was ist mit ihnen?« fragte er in absichtlich ruppigem Ton. »Kannst du sie aufwecken?«
Titch nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Ich könnte es«, sagte er. »Aber es ist nicht nötig. Sie werden von selbst erwachen, in kurzer Zeit. Vielleicht sollten wir diese Frist nutzen, einen Fluchtplan auszuarbeiten.« Er deutete zur Höhlendecke. »Du hast es selbst gesagt: es hat sehr wenig Sinn, noch einen Tag in diesem Loch zu verbringen.« Er beugte sich mit absichtlich übertriebener Gestik vor und verdrehte den Kopf, um in den Himmel hinaufzublicken. »Wo sind deine geflügelten Freundinnen?« fragte er. »Ich wünschte, ich wüßte es«, antwortete Skar. Er deutete auf die Umrisse der beiden Daktylen, hundert Schritte unter ihnen. Sie hatten sich während der ganzen Zeit nicht einmal bewegt. »Die beiden da sind die einzigen, die zurückgeblieben sind. Die anderen...« Er hob die Schultern. »Vielleicht suchen sie nach mir.« Titchs Blick machte deutlich, was er von dieser Erklärung hielt, aber er ging mit keinem Wort darauf ein. »Wo Daktylen sind, sind auch Errish nicht weit. Vielleicht sollten wir hinuntergehen und sie fragen«, schlug er vor.