Skar deutete stumm nach links. Die Felswand ragte dort fast lotrecht in die Höhe, aber die Sonne stand noch immer günstig. Auf eine Höhe von vier oder fünf Metern lag der Fuß der Steilwand noch im Schatten. Für eine gute Stunde, wenn nicht länger, würden sie dort fast völlig unsichtbar sein. Titch signalisierte ihm mit einem Nicken, daß er einverstanden war. Jeden Schatten und jeden Felsen als Deckung nutzend, schlichen sie los und erreichten nach wenigen Minuten unbehelligt den Fuß der zyklopischen Felswand. Skar preßte sich flach gegen den Boden und breitete seinen Mantel über sich aus, während Titch einfach zur Reglosigkeit erstarrte und sich voll und ganz auf den Schutz des Schattens und seiner geschuppten dunklen Haut verließ.
Die Zeit verstrich quälend langsam. Skar war sich darüber im klaren, daß in Wahrheit nur Minuten vergangen sein konnten, bis die beiden Errish wieder aus dem Tal auftauchten und in die Sättel der Daktylen kletterten, aber ihm kam es vor, als wären Stunden vergangen, bis die beiden Drachenvögel sich ungeschickt abstießen und in gefährlich tiefem Gleitflug über die Felsen glitten, ehe es ihnen gelang, Höhe zu gewinnen. Auch die dritte Daktyle hörte auf, vor dem Höhleneingang zu kreisen und schaufelte sich mit kraftvollen Schlägen ihrer ledrigen Schwingen in die Höhe. Für einen Moment hoffte Skar schon, die Errish würden einfach abziehen, aber der logische Teil seines Bewußtseins sagte ihm, daß sie das ganz bestimmt nicht tun würden. Schließlich wußte er, was sie hinter den Felsen gefunden hatten.
Die drei Daktylen schwebten einen Moment lang fast reglos über dem Tal, und Skar glaubte, die forschenden Blicke der drei Errish auf ihren Rücken wie die Berührung einer eisigen Hand zu fühlen. Dann zerbrach der Formationsflug der drei Drachenvögel wieder. Diesmal näherten sich zwei Daktylen der Höhle und begannen, vor ihrem Eingang zu kreisen. Skar sah aus den Augenwinkeln, wie sich Titch spannte. Er warf dem Quorrl einen mahnenden Blick zu, aber er war nicht einmal sicher, ob er ihn überhaupt bemerkte.
»Skar!«
Die Stimme kam direkt vom Himmel, und sie war so laut und durchdringend wie die eines Gottes. Skar sah erschrocken auf, darauf gefaßt, die Daktyle direkt auf ihr Versteck zuschießen zu sehen, aber die Echse kreiste weiter über dem Tal, der Kopf ihrer Reiterin bewegte sich suchend hin und her. Schwarzes Haar wehte wie ein Schleier im Flugwind. Die Errish über ihnen war Anschi.
»Satai!« schrie sie noch einmal. »Ich weiß, daß du mich hörst! Du bist hier irgendwo! Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, daß du mich siehst. Hör mir genau zu!«
Die Daktyle verlor an Höhe, und Anschi schwieg ein paar Sekunden, um ihren bockenden Drachenvogel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Skar tauschte einen erschrockenen Blick mit Titch. Der Quorrl beobachtete Anschi scharf, sah aber zwischendurch immer wieder zu den beiden anderen Daktylen hinauf. Die Errish hatten sich der Höhle noch weiter genähert und kreisten so dicht vor ihrem Eingang, daß ihre Daktylen sich nur noch mit Mühe in der Luft halten konnten. Ihre Flügel peitschten wie rasend.
»Satai!« schrie Anschi. »Hör mir genau zu, du verdammter Mörder! Du hattest deine Chance, mehr als einmal! Aber du hast es nicht anders gewollt! Jetzt spielen wir nach meinen Regeln, hörst du? Wir haben Kiina, und wir haben deinen Quorrl-Freund! Den Quorrl werden wir löten, und wenn du Kiina wiedersehen willst, dann komm und hole sie dir! Du weißt, wo du uns findest! Und jetzt sieh genau hin, Satai. Eine Errish bezahlt immer ihre Schuld! Sieh ganz genau hin!« Anschi hob die Hand und gab ihren beiden Schwestern ein Zeichen, und Titch schrie gellend auf und sprang hoch.
Aber diesmal war er nicht schnell genug. Skar sprang ihn an und ließ die gefalteten Fäuste mit aller Gewalt in seinen Nacken krachen. Der Quorrl taumelte, fiel auf Hände und Knie zurück und brach vollends zusammen, als Skar noch einmal und mit noch größerer Kraft zuschlug.
Und in der gleichen Sekunde begannen grellweiße Lanzen aus Licht aus den Händen der Errish zu zucken und fuhren in die Höhle. Immer und immer und immer wieder.
13.
Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen. Titch war nach wenigen Augenblicken wieder erwacht, aber nichts von alledem, was Skar erwartet hatte, war geschehen. Der Quorrl hatte sich einfach aufgerichtet und lange, endlos lange zu der lodernden roten Wunde im Berg hinaufgestarrt, in die das Scannerfeuer der Errish die Höhle verwandelt hatte, und er hatte auch nicht reagiert, als Skar ihn anzusprechen versuchte. Fast eine Stunde lang hatte er einfach dagesessen und ins Leere gestarrt. Schließlich war Skar aufgestanden und noch einmal zu den beiden toten Errish zurückgegangen, um sich ihrer Vorräte und Wasserflaschen zu bemächtigen. Als er zurückkam, saß der Quorrl noch immer in der gleichen, erstarrten Haltung da.
Die Sonne stand im Zenit, als sie das Tal verließen und den langen, mühsamen Aufstieg in die Berge begannen. Es war heiß geworden, und der Regen hatte endgültig aufgehört. Am Himmel stand keine einzige Wolke mehr, und selbst der Wind war warm und trocken; wie ein Vorgeschmack der Wüste auf der anderen Seite der steinernen Barriere, die das Tal der Drachen umgab. Sie kamen nur sehr langsam voran, denn es gab keinen richtigen Weg, und oberhalb der Höhle, die Titchs Männern zum Grab geworden war, wurde das Gelände immer schwieriger, so daß sie mehr als einmal zu lebensgefährlichen Kletterpartien gezwungen wurden. Skar wartete auf den Moment, in dem Titch aus seiner Betäubung erwachen oder einfach vor Schwäche aufgeben würde, denn mit seiner verletzten Hand mußte ihm das Bergsteigen ungleich schwerer fallen als ihm, aber der Quorrl folgte stumm und klaglos.
Am späten Nachmittag hatten sie den Berggipfel erreicht und legten eine erste Rast ein. Skar war müde. Das Klettern hatte ihn erschöpft, und er hatte die zweite Nacht ohne Schlaf hinter sich. Seine Augen brannten, und im Laufe der letzten Stunde hatte er mehr als einmal danebengegriffen und war eigentlich nur noch durch pures Glück einem Absturz entronnen. Trotzdem widerstand er der Versuchung, sich auf dem Boden auszustrecken und die Augen zu schließen. Er hatte Angst, zu schlafen. Wenn er schlief, kamen die Träume, und vielleicht würde er nicht mehr er selbst sein, wenn er das nächste Mal aufwachte. Sie rasteten eine Stunde, dann zogen sie weiter, dem Gipfel des nächsten, höheren Berges entgegen, der vor ihnen aufragte. Sie brauchten den Rest des Tages, die Nacht und noch einen Teil des nächsten Morgens, um ihn zu erreichen, und dann versagten Skars Kräfte einfach. Mitten im Schritt brach er in die Knie, kippte nach vorn und schlief ein - und träumte wieder.
Er sah sich selbst und Titch, allein auf einer gigantischen, vollkommen leeren Ebene aus schwarzem Stahl, über der sich kein Himmel spannte. Sie kämpften, einen gnadenlosen, endlosen Kampf, in dem keiner den anderen besiegen konnte und sie sich gegenseitig immer wieder furchtbare Wunden beibrachten, ohne daß einer von ihnen aufgab oder schwächer wurde. Der Zorn war wieder da, schlimmer denn je, und er hatte seinen Bruder mitgebracht, die Furcht, die Skar im gleichen Maße zu lähmen schien, wie ihm der Haß Kraft verlieh.