»Fast zu spät ist doch ausreichend«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Besser als wirklich zu spät, oder?« Er nahm die Hände herunter und sah sich suchend um. »Ich bin durstig. Haben wir noch Wasser?«
Titch reichte ihm eine der Flaschen, die er den toten Errish abgenommen hatte. Zu Skars Überraschung war sie bis an den Rand gefüllt, und ihr Inhalt war eiskalt und wohlschmeckend.
»Ich habe mich ein wenig umgesehen, während du geschlafen hast«, erklärte Titch, als er seinen fragenden Blick bemerkte. »Ganz in der Nähe ist eine Quelle. Und dort unten -« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Klippe zurück. »- fließt ein Fluß vorbei. Du kannst trinken, soviel du willst. Wir werden kaum verdursten.«
Durch seine Worte ermutigt, trank Skar einen weiteren, gewaltigen Schluck, ehe er die Flasche wieder zuschraubte. »Und wie sieht es mit Essen aus?«
»Wenn du Gras magst...«, sagte Titch. »Oder Moos.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Es gibt kein Wild hier oben. Außerdem läßt sich mit einem Schwert schlecht Jagd auf Hasen machen. Aber dort unten im Tal finden wir sicher etwas.«
»Du begleitest mich also?«
Titch entblößte sein Raubtiergebiß zu einem Grinsen. »Eine reichlich überflüssige Frage in unserer Situation, findest du nicht?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
Titch wurde übergangslos ernst. »Du hast es wirklich so gemeint, wie du es gesagt hast, gestern morgen, nicht?«
»Daß du gehen kannst?« Skar nickte. »Ja. Es war dumm, dich zwingen zu wollen.«
»Niemand kann mich zu irgend etwas zwingen«, antwortete Titch leise.
»Wenn es dir wichtig ist, dann entbinde ich dich von deinem Ver -« Skar registrierte erst nach ein paar Sekunden, was Titch gerade gesagt hatte. Er brach mitten im Wort ab und sah den Quorrl verblüfft an. »Wie... meinst du das?«
»Niemand hat je einen Quorrl dazu gezwungen, irgend etwas gegen seinen Willen zu tun«, antwortete Titch. »Ich habe dich nach Elay begleitet, weil ich es wollte, Skar, nicht wegen irgendeines dummen Versprechens.«
»Und dein Eid, zu sterben? Deine Ehre?«
»Ehre.« Titch sprach das Wort mit sonderbarer Betonung aus, deren Bedeutung Skar nicht ganz klar wurde. »Ehre. Es gibt Ehre, und es gibt Rituale, Satai. Beides ist nicht dasselbe. Damals, in der Burg, da glaubte ich wirklich, daß Menschen und Quorrl niemals zusammen existieren könnten. Ich dachte, es wäre meine Pflicht, zu sterben. Aber ich wollte es nicht wirklich.« Er ballte die Faust, und plötzlich klang seine Stimme gequält. »Ich bin ein Krieger, Skar. Man hat mich gelehrt, daß mein Leben dem Kampf dient, und mit ihm endet, so oder so. Mich und all die Männer, die mir ihr Leben anvertrauten. Ich habe zehntausend von ihnen in den Tod geführt. Und Tausende von deinen Männern.«
»Du wurdest getäuscht, genau wie wir, und -«
»Das spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Titch. »Ich habe einen Fehler gemacht, und es ist gleich, warum. Ich bin als Krieger geboren und zum Krieger erzogen worden, und als Krieger habe ich versagt, und die Regeln sind eindeutig, in diesem Fall. Aber ich frage mich, ob sie richtig sind.«
»Keine Regel, die den Tod eines Mannes verlangt, ist richtig«, antwortete Skar.
»Aber ich bin kein Mann«, widersprach Titch in beinahe sanftem Tonfall. »Du verstehst unsere Art zu denken noch immer nicht, Satai, so wenig wie ich die eure. Ich und das Heer, das ich zu euch brachte, wir sind...« Er suchte nach Worten. »Waffen. Erinnerst du dich, wie Anschi die Ultha nannte? Dinge. Das sind wir. Krieger. Werkzeuge, die man benutzt und sorgsam pflegt, aber wegwirft, wenn sie nicht mehr gebraucht werden oder versagen. Oh, wir sind Fürsten, dort, wo wir herkommen. Wir haben alles, was unsere Brüder nicht haben: warme Feuer im Winter, gutes Essen, Wein, Frauen... Die Quorrl sind ein armes Volk, doch ihre Krieger entbehren nichts. Bis auf ihr Leben vielleicht.« Seine Stimme wurde bitter. »Damals, lange ehe sie mich zum Führer des Heeres machten und zu euch schickten, da habe ich mich manchmal danach gesehnt, mit einem einfachen Bauern oder Jäger tauschen zu können. Verrückt, nicht?«
»Nein«, antwortete Skar. »Das ist es ganz und gar nicht. Auch mir ist es oft so gegangen.«
»Aber du hast dir dein Los selbst ausgesucht«, widersprach Titch. »Niemand hat dich gezwungen, Satai zu werden. Mich hat niemand gefragt, ob ich ein Krieger sein will. Ich wurde als Krieger gezeugt, und meine Amme war das Schwert.« Er stand auf, ging zur Klippe zurück und blieb zwei Schritte vor dem Ende des Felsplateaus stehen, und nach ein paar Sekunden erhob sich auch Skar und folgte ihm.
Für eine geraume Weile standen sie einfach schweigend nebeneinander und blickten auf die verwirrend fremdartige Welt hinab, die sich zwei oder drei Meilen unter ihnen ausbreitete. Das Tal der Drachen... Die Worte erfüllten Skar mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Unter ihnen lag der Schlüssel zur Macht der Errish, die Heimat der Bestien, die sie unbesiegbar und fast allmächtig gemacht hatten, aber auch eine Welt, die den meisten Menschen Enwors so fremd und unverständlich war, daß sie davor zurückschreckten, auch nur ihren Namen auszusprechen. Kaum ein Mensch, der nicht das schwarze Gewand der Errish trug, hatte dieses Tal jemals betreten. Und von denen, die es gewagt hatten, waren nur die allerwenigsten zurückgekehrt. Selbst die Ehrwürdigen Frauen zahlten manchmal mit dem Leben für den Versuch, die Heimat der Drachen zu betreten.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du hier auf mich wartest«, sagte er. »Kein Quorrl hat jemals dieses Tal betreten.«
»Und kein Mensch das Land der Toten«, antwortete Titch ebenso leise. »Trotzdem willst du es tun.«
Aber ich bin kein Mensch, dachte Skar. Laut sagte er: »Das ist etwas anderes. Ich... habe keine Wahl. Ich muß es tun.«
»Warum?« Titch lachte leise. Es sollte abfällig klingen, aber Skar spürte die Unsicherheit darin. »Weil du ein Satai bist und dir einbildest, die Welt retten zu müssen?«
»Nein«, antwortete Skar. »Weil ich es war, der sie geweckt hat. Und weil ich der einzige bin, der sie vielleicht aufhalten kann.«
Titch war nicht einmal überrascht. Vielleicht hatte ihm irgend jemand die Geschichte von Vela und ihrem Versuch, die Macht über die Welt an sich zu reißen, erzählt, und die Rolle, die Skar darin gespielt hatte. Vielleicht spürte er auch einfach nur, daß Skar mehr war als ein Satai.
»Ich habe nicht geschlafen«, sagte Titch plötzlich, und im ersten Moment scheinbar zusammenhanglos. »Ich hatte viel Zeit, nachzudenken, Skar. Ich glaube, du hast recht. Wir können sie nicht besiegen. Du kannst es nicht, und ich kann es nicht. Nicht allein. Aber vielleicht gelingt es uns gemeinsam. Unsere Völker sind Feinde, solange unsere Erinnerung zurückreicht, aber wenn wir zusammen überleben konnten, dann können es all die anderen vielleicht auch.«
Unter allen anderen denkbaren Umständen hätten diese Worte vielleicht lächerlich, zumindest aber pathetisch in Skars Ohren geklungen. Jetzt nicht. Er verstand, was der Quorrl meinte, und er wußte, daß er recht hatte. Menschen und Quorrl waren längst zu einem Volk geworden, auch wenn sie es selbst nicht einmal ahnten. Enwor gehörte ihnen beiden. Es spielte überhaupt keine Rolle mehr, wer von ihnen zuerst hiergewesen war.
»Vertraust du mir?« fragte Titch plötzlich.
»Natürlich«, antwortete Skar. Vielleicht war der Quorrl das einzige denkende Wesen auf dieser ganzen Welt, dem er noch vertraute.
»Aber das solltest du nicht«, fuhr Titch fort; ganz leise, den Blick starr weiter nach unten gerichtet, auf das verwirrende Marmormuster aus Gelb und Braun und schmutzigem Grün, ohne es wirklich zu sehen.
»Und... warum?«
»Weil ich dich belegen habe«, murmelte Titch. »Dich und... dieses Kind, an dem dir so viel zu liegen scheint.«