»Ein Teil des Fluchtweges«, antwortete er. »Irgendwo hinter -« Er sah sich suchend um und deutete schließlich auf eine Stelle, die der Treppe genau gegenüberlag. »- dieser Wand liegen die alten Verliese. Von dort aus kennst du den Weg wahrscheinlich besser als ich.«
Kiina schwieg einen Moment. Ihr Blick wirkte irritiert. Sie verstand den groben Ton nicht, in dem Skar plötzlich sprach. Ohne ein weiteres Wort ging sie zu der Stelle, die Skar ihr gezeigt hatte, und drückte mit der Schulter dagegen. Nichts geschah. Kiina runzelte verärgert die Stirn, und Skar trat mit einem raschen Schritt neben sie und legte die gespreizten Finger auf den glattpolierten Fels. Ein helles Klicken erscholl, vergleichbar dem Geräusch, das oben aus dem Inneren des Thrones gekommen war, aber leiser, sauberer, und plötzlich spaltete sich die scheinbar massive Wand vor ihnen in zwei Hälften, zwischen denen sie zwar gebückt, aber doch bequem hindurchgehen konnten.
Kiina nickte anerkennend. »Du überraschst mich immer wieder, Skar«, sagte sie. »Du weißt Dinge, die nicht einmal mir bekannt waren.«
Skar verzichtete auf eine Antwort. Ungeduldig wartete er, bis Kiina ihm gefolgt war, dann schloß er die Tür wieder auf die Art, die Gowenna ihm gezeigt hatte, und sah sie auffordernd an. »Jetzt darfst du die Führung übernehmen.«
»Euer Vertrauen ehrt mich zutiefst«, antwortete Kiina spöttisch. Sie drehte sich herum, ging ein paar Schritte, blieb stehen, runzelte verwirrt die Stirn, machte einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung und blieb wieder stehen.
»So furchtbar gerechtfertigt scheint es aber nicht gewesen zu sein«, sagte Skar.
Kiina warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ging rasch weiter; ein wenig zu schnell, um Skar davon zu überzeugen, daß sie wirklich wußte, wohin sie ging. Aber er folgte ihr widerspruchslos.
Es war ein wahres Labyrinth, durch das sie sich bewegten. Die alten, seit einem Jahrtausend nicht mehr benutzten Verliese blieben hinter ihnen zurück, sie durchquerten Gänge und Hallen voller aufgestapelter Kisten und Fässer und abgedeckter Ballen, dann wieder leere, unermeßlich große Hallen, in denen der Staub von Jahrhunderten zu einer steinharten Schicht auf dem Boden zusammengebacken war. Skar war in dieser Zeit mehr als einmal sicher, daß Kiina längst die Orientierung verloren hatte und den Weg nur noch erriet. Obwohl er schon einmal hiergewesen war, konnte er sich nicht mehr genau an den Weg zu den Drachenhöhlen erinnern, aber was er wußte war, daß er kürzer gewesen war. Wesentlich kürzer. Ein schneller Fluchtweg machte sehr wenig Sinn, wenn man sich die Füße wundlief, um ihn zu bewältigen.
Aber schließlich führte Kiina ihn wieder durch einen Gang, den er kannte, obgleich das rote Licht alles fremd und kleiner und gedrungener erscheinen ließ, als er es in Erinnerung hatte. Wortlos trat er an Kiina vorbei und bedeutete ihr mit Gesten, daß er von nun an wieder die Führung übernahm. Sie widersprach nicht, sondern wirkte ganz im Gegenteil erleichtert.
Sie traten durch eine weitere, getarnte Tür und fanden sich unvermittelt im Dunkeln wieder. Kiina hielt ihn am Arm zurück und machte einen halben Schritt in die Schwärze hinein. Skar hörte sie vor sich hinhantieren, dann glomm ein winziger Funke auf und wurde in Sekundenschnelle zum prasselnden Feuer einer ganz normalen Fackel. In dem flackernden Licht sah Skar, daß eine ganze Reihe davon in eisernen Haltern neben der Wand warteten. Er ersparte sich die Frage, wie Kiina die Fackel so schnell entzündet hatte - schon um nicht einen weiteren Vortrag über die geheimen Künste der Errish hören zu müssen -, und streckte fordernd die Hand aus. Kiina reichte ihm die Fackel, entzündete eine zweite für sich selbst und schob sich zwei weitere Reservefackeln unter den Gürtel. Skar runzelte mißbilligend die Stirn. Was hatte sie vor? Unter der Erde bis nach Ikne zurückzulaufen? Schaudernd sah er sich um. Er war nicht das erste Mal hier, aber der Anblick erschreckte ihn ebensosehr wie damals: die geheime Tür hatte sie auf einen schmalen, glasglatten Felssims hinausgeführt, der dicht unter der Decke einer wahrhaft titanischen Höhle entlangführte. Der Schein ihrer Fackeln verlor sich schon nach wenigen Fuß in absoluter Dunkelheit, aber Skar wußte, daß der Boden mehr als eine Meile unter ihnen lag. Die Höhle war so groß, daß ganz Elay bequem hineingepaßt hätte. Und es war nicht die einzige.
»Worauf wartest du?« fragte Kiina, als er sich nicht von der Stelle rührte.
Skar machte eine Kopfbewegung auf den finsteren Abgrund vor sich. »Dort unten ist nichts«, sagte er. »Kein Licht. Keine Geräusche.«
»Vielleicht sind sie in einer der anderen Höhlen«, sagte Kiina unwillig. »Komm schon.« Und wie es ihre Art war, ging sie einfach los, ohne auf seine Antwort zu warten. Skar folgte ihr, aber er tat es mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite war er es Kiina - und auch sich selbst - schuldig, sich wenigstens davon zu überzeugen, daß auch die Drachenhöhlen leer waren. Aber sie hatten die mit Titch vereinbarte Zeit längst überschritten, und der Rückweg würde doppelt anstrengend und somit auch ein gutes Stück länger sein. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er fast Angst vor dem, was sie vielleicht finden konnten. Er ertrug den Gedanken nicht, noch mehr Tote zu sehen.
Das einzige, was er für die nächste halbe Stunde sah, waren Kiinas Rücken, die glatte Felswand neben sich und die Stufen aus schwarzer Lava, die in magenumstülpendem Winkel vor ihnen in die Tiefe führten. Seine Waden begannen zu schmerzen, dann sein Rücken, und als er endlich den Boden der Höhle erreicht hatte, hatte er das Gefühl, keinen Schritt weiter gehen zu können. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus, um sein Blut wieder mit frischem Sauerstoff zu füllen.
»Was hast du, Satai?« fragte Kiina spöttisch. »Schon müde?« Skar funkelte sie ärgerlich an. »Nicht halb so erschöpft wie du, kleines Mädchen«, sagte er. »Ich bin nur nicht so dumm, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen.«
Kiina setzte zu einer wütenden Antwort an, fuhr dann aber wortlos herum und stürmte einfach in die Dunkelheit hinein. Skar folgte ihr mit einem gemurmelten Fluch. Sie war Gowennas Tochter, daran gab es gar keinen Zweifel. Schade, daß sie nicht auch die Besonnenheit ihrer Mutter geerbt hatte.
Er holte sie ein, riß sie mit einer etwas zu groben Bewegung an der Schulter zurück und machte eine wedelnde Geste mit der freien Hand. »Und wohin jetzt? Diese verdammten Höhlen sind so groß, daß du Elay fünfmal darin unterbringen kannst. Willst du blindlings herumsuchen?«
Kiina riß sich los. Aber plötzlich geschah etwas Seltsames: Der Trotz auf ihren Zügen erlosch und machte Verlegenheit Platz. Vielleicht hatte sie gemerkt, daß Skars Zorn nicht gespielt war. Vielleicht ging es ihr auch so wie Skar, und diese Höhlen machten ihr angst.
»Es gibt einen Saal, nicht weit von hier«, sagte sie. »Er ist für den Drachen der Margoi reserviert, und ihre engsten Vertrauten. Wenn es Überlebende gibt, dann dort.«
Skar resignierte. Er wußte, daß er Kiina nicht eher hier herausbekommen würde, bis sie sich mit eigenen Augen von dem überzeugt hatte, was sie im Grunde beide schon lange wußten: daß diese Höhlen so leer und tot waren wie die Stadt, die über ihnen erbaut war.
Was Kiina mit nicht sehr weit von hier bezeichnet hatte, erwies sich als eine Strecke von zwei Meilen, für die sie auf dem unebenen Boden eine gute Stunde brauchten. Sie durchwateten einen unterirdischen, eiskalten Fluß, der nur knietief war, aber reißend, und einmal stürzte Kiina und verletzte sich an der Schläfe, als sie eine steil aufragende Halde aus Schutt und spitzen Lavabrocken überkletterten. Skars Mitleid hielt sich in Grenzen - er hatte Kiina jede nur denkbare Möglichkeit gegeben, umzukehren, aber sie war noch in einem Alter, aus dem man eben nur aus Schaden klug wurde, nicht aus Worten. Doch er registrierte mit einer Mischung aus Sorge und grimmiger Befriedigung, daß sich ihre Kräfte wirklich dem Ende entgegenneigten. Als sie endlich den Durchgang zu der Höhle erreichten, von der Kiina gesprochen hatte, wankte sie vor Erschöpfung. Skar fragte sich, ob sie den Rückweg schaffen würde. Zur Not würde er sie tragen müssen, obwohl er - Und dann sah er etwas, was ihn alle Gedanken an den Rückweg und Kiinas Zustand schlagartig vergessen ließ.