Lange, endlos lange standen sie einfach da und starrten auf das Bild des Entsetzens herab, das sich ihnen bot, schweigend, jeder in seiner eigenen Angst gefangen. Es fiel Skar nicht sehr schwer, in Gedanken nachzuvollziehen, was hier geschehen war: Hier, genau hier, mußte es begonnen haben. Es war dieser Ort, das Zentrum von Elays Macht, an dem die Bestie, die die Bewohner der Stadt später den Wächter nannten, zuerst zugeschlagen hatte, mit aller Macht und lange, ehe sie begann, ihr finsteres Gespinst nach oben zu schicken. Die Stadt war schon gefallen, ehe seine Bewohner auch nur ahnten, daß sie überhaupt angegriffen wurden.
Kiina hob die Hand und deutete auf eine titanische Echse, die halb zusammengebrochen, halb auf den Hinterläufen stehend, in einem Gewirr schwarzer, schenkelartiger Netzfäden hing. »Das ist Elah«, flüsterte sie.
Skar sah sie fragend an, und Kiina fügte hinzu: »Der Drache der Margoi.«
Skar besah sich das Tier ein zweites Mal. Es war der mit Abstand größte Drache, der hier sein Grab gefunden hatte, und er unterschied sich auch sonst von den übrigen Tieren. Seine Haut war grau und glänzte wie poliertes Eisen, und in das Horn des riesigen Stachelkranzes über seinem Schädel war ein schmaler Sattel eingeschnitten worden. Seine Augen waren so groß wie Skars geballte Fäuste und strahlten selbst im Tode noch Wildheit aus. Dann erinnerte er sich, wo er ein solches Tier schon einmal gesehen hatte: es war ein Staubdrache, die wildeste und größte Bestie, die auf Enwor bekannt war. Selbst den Errish gelang es nur sehr selten, ein solches Tier zu zähmen.
Fast gegen seinen Willen drehte er sich herum und sah zu den verglühenden Resten der Sternenbestie hinüber. Der Gedanke, daß selbst ein Ungeheuer wie der Staubdrache dem Monster erlegen war, erschien ihm absurd und ungerecht. Die Drachen waren - auch wenn sie fast immer den Tod brachten - ein Teil ihrer Welt, erschaffen von der gleichen Macht, die ganz Enwor erschaffen hatte, aber die Kreaturen von den Sternen waren... anders. Fremd. Fremd u... vielleicht nicht einmal böse, aber so völlig verschieden von ihnen, daß eine Verständigung einfach nicht denkbar war.
Dann erkannte er den Fehler in dieser Überlegung und zwang sich, den Gedanken abzubrechen.
Ein dumpfes Poltern und Bersten ließ ihn aufsehen. Der Brand hatte auch auf einen Teil dieses Netzes übergegriffen und breitete sich aus, nicht so schnell, daß sie in irgendeiner Gefahr gewesen wären, aber doch rasch genug, um auch die Stabilität dieses zweiten, größeren Netzes zu erschüttern. Einer der Drachenkadaver war zur Seite gestürzt; brennende Fäden regneten auf ihn herab. »Laß uns gehen«, sagte Skar schaudernd. »Bevor hier alles zusammenbricht.«
»Da hinten... ist etwas«, sagte Kiina.
Skar sah kurz in die Richtung, in die sie starrte, und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts, Kind«, sagte er sanft. »Nur Schatten.«
»Da ist jemand!« beharrte Kiina. »Etwas hat sich bewegt.« Sie machte einen Schritt. Skar hielt sie zurück, aber Kiina riß sich mit erstaunlicher Kraft wieder los. Skar wollte wieder nach ihr greifen, um sie zum zweiten Mal zurückzureißen - und dann erkannte er, daß sie recht hatte. Nur wenige Dutzend Schritte vor ihnen, halb im Schatten des toten Staubdrachen verborgen, bewegte sich wirklich etwas. Er konnte nicht erkennen, ob es Mensch oder Tier oder etwas anderes war.
»Glaubst du mir jetzt?« fragte Kiina.
Skar gebot ihr mit einer warnenden Geste zu schweigen, machte eine zweite, befehlende Handbewegung, daß sie zurückbleiben sollte, und ging vorsichtig auf den toten Drachen zu. Kiina tat genau das, was er erwartet hatte - sie ignorierte seinen Befehl und folgte ihm in weniger als zwei Schritten Abstand. Skar näherte sich dem Tier in einem weiten Bogen, obwohl er dabei in unangenehme Nähe der Flammen geriet. Aber er hatte kein Vertrauen in die Festigkeit des abgestorbenen Gewebes, das den tonnenschweren Kadaver stützte. Er war nicht besonders erpicht darauf, unter dem zusammenbrechenden Drachen begraben zu werden.
Die Bewegung wiederholte sich, und wie um die Szene besser zu beleuchten, loderten die Flammen hinter ihnen plötzlich heller auf und durchbrachen den Schatten mit roter Glut, so daß Skar jetzt erkennen konnte, was sie verursacht hatte.
Es war ein Mensch. Eine schmale, in ein schmuckloses schwarzes Kapuzengewand gehüllte Gestalt, die verkrümmt und mit angezogenen Armen und Beinen wie ein Embryo auf der Seite lag und sich schwach bewegte. Eine Errish.
Kiina schrie auf, stürmte an ihm vorbei und fiel neben der Ehrwürdigen Frau auf die Knie herab. Ein leises Stöhnen drang unter der Kapuze hervor, als Kiina versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Die grausame Karikatur einer Hand kroch aus den Falten des schwarzen Gewandes und tastete zitternd nach Kiinas Gesicht, und fast im gleichen Moment schrie Kiina so gellend und voller Entsetzen auf, daß Skar die letzten Schritte bis zu ihr mit einem Satz überwand und sie instinktiv zurückriß. Gleichzeitig hob er das Schwert.
Kiina schlug seinen Arm beiseite, wobei sie sich einen langen, blutigen Kratzer an der Klinge des Tschekal zuzog, ohne es auch nur zu bemerken. »Steck die Waffe weg!« herrschte sie ihn an. »Bist du wahnsinnig, Satai? Das ist die Margoi!«
Skar schob Kiina kurzerhand zur Seite, legte das Schwert aber wenigstens neben sich auf den Boden, als er sich vor der Gestalt im schwarzen Mantel in die Hocke sinken ließ.
»Rühr sie nicht an!« drohte Kiina. »Ich warne dich - rühr sie nicht an!«
Ein schwaches Stöhnen drang aus den Schatten unter der Kapuze, dann eine Stimme, die Stimme einer jungen Frau, die trotzdem auf schreckliche Weise so müde und brüchig klang wie die einer Greisin.
»Laß ihn, Mädchen. Er wird... mir nichts antun.«
Skar versuchte, die Schatten unter dem Mantel mit Blicken zu durchdringen, aber es gelang ihm nicht richtig. Er erkannte die schemenhaften Umrisse eines Gesichtes, aber etwas daran war falsch. Beunruhigend. Die verkrüppelte Hand bewegte sich vor ihm über den Boden und verschwand raschelnd wieder in den Falten des Gewandes; wie eine Spinne, die nur kurz ihr Nest verlassen hatte, um nach Beute Ausschau zu halten, dachte Skar schaudernd. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß die Worte der Margoi als Frage gemeint waren. Fast hastig schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das werde ich nicht. Hat sie recht? Du bist die Margoi?« Die Errish hustete qualvoll, dann nickte sie. »Ich war es. Oder ja, ich bin es.« Sie lachte ganz leise und bitter und voller Schmerz. »Aber ich bin tot, Satai. Die tote Königin eines toten Volkes. Du bist doch ein Satai? Das ist... Satai-Kleidung, die du trägst.« Das Schattengesicht unter der Kapuze bewegte sich, und Skar glaubte zu erkennen, wie sich die Augen angestrengt verengten. »Das ist der Mantel eines... Hohen Satai?«
»Ich bin Skar«, antwortete Skar.
»Skar.« Die Margoi wiederholte das Wort, als versuche sie etwas Vertrautes in seinem Klang zu erkennen. Dann, nach einer Weile, nickte sie. »Oh, ja, ich erinnere mich. Das Mädchen... ging, um... um dich zu holen. Wie war doch gleich sein Name?«
»Kiina«, antwortete Kiina. Sie ließ sich neben Skar auf die Knie sinken und warf ihm einen irritierten Blick zu. Skar schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Geist der Sterbenden begann sich zu verwirren, schon der Klang ihrer Stimme machte das klar. Sie hatten eine Überlebende gefunden, aber sie waren zu spät gekommen, um sie zu retten.
»Kiina. Ja, ich erinnere mich. Du bist... Gowennas Tochter.« Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Kraft reichte nicht. Mit einem schmerzhaften Keuchen sank sie zurück und stöhnte leise. Ihre Hand glitt kraftlos unter dem Mantel hervor und berührte Skars Bein. Er mußte mit aller Macht den Impuls unterdrücken, sie beiseite zu schlagen. Die Berührung war unangenehm: kalt und naß und viel mehr wie die toten als lebenden Fleisches, und auch Kiinas Augen weiteten sich erschrocken, als sie sie zum zweiten Mal und jetzt wohl deutlicher sah. Sie war nicht wirklich verkrüppelt, aber so ausgezehrt und verkrümmt, daß sie so wirkte. Die Haut war bleich und trocken und gerissen und über und über mit Geschwüren und nässenden Wunden übersät. Sie hatte keinen einzigen Fingernagel mehr.