»Was ist... geschehen, Herrin?« flüsterte Kiina entsetzt. »Ihr seid verwundet. Wer hat euch das angetan?«
»Ich selbst«, antwortete die Margoi. »Der Staub. Ich war...« Sie brach ab, rang mühsam nach Atem und machte eine bittende Handbewegung. »Helft mir, mich... aufzusetzen«, flüsterte sie. »Erschreckt nicht. Ich biete keinen... schönen Anblick.«
Kiina wollte sich vorbeugen, aber Skar schob ihre Hand mit sanfter Gewalt beiseite, griff unter die Arme der Margoi und richtete sie auf. Als er sie behutsam gegen die Flanke des toten Drachen lehnte, spürte er, wie dünn und zerbrechlich der Körper unter dem schwarzen Stoff war. Er zögerte einen winzigen Moment, ehe er die Hand hob und die Kapuze des Mantels zurückschlug. Er wünschte sich fast, es nicht getan zu haben. Kiina gelang es nicht mehr ganz, einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken, und auch Skar preßte erschrocken die Lippen aufeinander und kämpfte sekundenlang gegen den Impuls, die Augen zu verschließen. Was mit der Hand der Margoi geschehen war, hatte auch vor ihrem Gesicht nicht haltgemacht. Was unter der Kapuze verborgen gewesen war, das war ein Totenschädel, kahl, bedeckt mit rissiger Pergamenthaut und von eiternden Wunden entstellt. Eines der Augen der Margoi war blind, überzogen von einem milchigen Netz, und der Mund hinter den entzündeten Lippen hatte keine Zähne mehr. »Großer Gott!« wimmerte Kiina. »Was ist mit Euch geschehen?«
Der Totenschädel der Margoi verzerrte sich zu einer Grimasse, die wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte. »Nur die gerechte Strafe der Götter, Kind«, flüsterte sie. »Wir haben bekommen, was wir... verdient haben.«
»Unsinn«, widersprach Skar. »Ihr -«
»Du«, unterbrach ihn die Margoi plötzlich mit kraftvoller, fast energischer Stimme, »solltest besser als dieses dumme Kind wissen, wovon ich spreche. Es war eine von uns, die die Götter aus ihrem Schlaf riß, damals in Combat. Wäre es ein Satai gewesen, würdest du mir nicht widersprechen.«
Aber es war ein Satai, dachte Skar bitter. Ich war es, der den Stein der Macht aus der Stadt brachte und damit das Siegel erbrach, das sie so lange gebannt hat. Aber das sprach er nicht aus. Die Margoi wußte es so gut wie er. Ebenso, wie sie wußte, daß keiner von ihnen wirklich geahnt hatte, was er tat. Sie waren alle nur Werkzeuge gewesen. Werkzeuge einer Macht, die sie vielleicht auch heute noch nicht verstanden. Vela war auf ihre Weise so unschuldig oder schuldig wie er selbst.
»Was ist passiert?« fragte er. »Wer hat Elay angegriffen? Hat der Wächter das getan?«
»Der Wächter?« Die Margoi schüttelte den Kopf. »Nein. Er... starb.«
»Er starb?« wiederholte Skar fragend. »Einfach so?«
»Vor elf Tagen«, bestätigte die Margoi. »Vielleicht auch vor zwölf. Ich weiß nicht. Ich bin... schon so lange hier unten. Er zerfiel, und wir waren... frei.«
»Aber sie sind alle tot!« sagte Kiina. »Elay liegt in Trümmern, Herrin! Jemand hat sie alle getötet!« Skar warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Kiinas Selbstbeherrschung war aufgebraucht. Der Anblick der sterbenden Margoi war mehr, als sie noch ertragen konnte. »Wer hat das getan?!«
»Niemand«, antwortete die Margoi leise. Ihr einzelnes, sehendes Auge richtete sich auf Kiina, und für einen Moment glaubte Skar trotz des unendlichen Schmerzes und des beginnenden Wahnsinns darin Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. »Wir selbst waren es, Kiina.«
»Ihr... selbst?«
Skar war nicht einmal überrascht. Und Kiina hätte es auch nicht sein dürfen. Sie wußten beide längst, was geschehen war. Die toten Errish oben in der Stadt, die Häuser, von Scannerschüssen niedergebrannt, der Drache, der den Palast angegriffen haben mußte - das alles hatte eine eindeutige Sprache gesprochen; deutlich genug, daß selbst Kiina die Wahrheit erkannt haben mußte. Aber keiner von ihnen hatte es gewagt, sie auszusprechen; vielleicht, weil er Angst hatte, sich mitschuldig zu machen, einen Teil der Verantwortung für diesen Wahnsinn zu übernehmen, dadurch, daß er es aussprach.
»Es begann am nächsten Tag«, berichtete die Margoi mit schwacher, aber sehr klarer Stimme. »Vielleicht auch unmittelbar danach. Niemand... bemerkte es zuerst. Wir alle waren wie... wie betäubt. Es war wie ein böser Traum, aus dem wir nur allmählich erwachen konnten. Und manche wachten nicht auf. Viele starben, als der Wächter verging, und andere wurden wahnsinnig. Einige... flohen. Aber nicht sehr viele.« Ihre Stimme wurde leiser und erstarb völlig. Sie verlor nicht das Bewußtsein, aber sie brauchte sichtlich eine kurze Pause, um neue Kraft zum Weiterreden zu sammeln.
Skar sah sich besorgt in der Höhle um. Die Flammen hatten weiter um sich gegriffen, breiteten sich aber durch einen glücklichen Umstand fast in der entgegengesetzten Richtung aus. Trotzdem blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Noch Minuten, und die Höhle würde sich in eine Hölle verwandeln, in der sie die Wahl zwischen Ersticken und Verbrennen hatten.
»Sie begannen... zu kämpfen«, fuhr die Margoi fort.
»Kämpfen?« Kiina hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Wer? Warum?«
»Es gab kein Warum. Es waren... die Träume. Manche starben einfach, andere... viele... sprangen plötzlich auf und griffen ihre Brüder und Schwestern an. Es dauerte eine Nacht und einen Tag und eine weitere Nacht, und danach... waren die meisten tot. Nicht alle, aber die meisten. Manche von uns, die Stärksten, konnten widerstehen. Auch ich. Oh, es war schwer, unendlich schwer. Da war... so viel Zorn in meinen Gedanken, so viel Haß...« Sie brach ab, hustete qualvoll, hob die Hand nach Skars Gesicht und ließ sie auf halbem Wege wieder sinken; Skar wußte nicht, ob aus Schwäche, oder weil sie ahnte, wie unangenehm ihm ihre Berührung sein mußte. »So viel Haß...«
Kiinas Blick war hilflos und unverstehend, aber Skar begriff nur zu gut, was die Margoi meinte. Er selbst hatte es mehr als einmal gespürt, dieses böse dunkle Flüstern aus den Abgründen seiner Seele, das ihn dazu bringen wollte, zu vernichten, zu töten und zerstören, gleich wen und was. Vielleicht war es die letzte, ultimative Waffe der Sternengeborenen, der böse Teil der menschlichen Seele, die Bestie, die in jedem Menschen lauerte, die sie entfesselten.
»Und dann kam der Staub«, flüsterte die Margoi, nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Er wehte vom Meer heran, und er tötete... alle. Wie der... der Atem meines Drachen, nur hundertmal... tödlicher. Ist er... noch da?«
»Der Staub?« Skar nickte. »Ja. Überall. Der Regen wäscht ihn fort, aber er ist noch da.«
Auf dem zerfallenen Gesicht machte sich Schrecken breit.
»Habt ihr ihn berührt? Ihn eingeatmet?«
Skar nickte widerstrebend. »Ich fürchte. Aber nicht sehr viel.«
»Er ist nicht mehr gefährlich«, fügte Kiina hinzu. »Sieh uns an. Wir leben. Und wir bringen Euch hier heraus.«
»Du irrst dich, Kind«, widersprach die Margoi. »Sieh mich an. Es war der Staub, der mir dies angetan hat. Ich... konnte fliehen. Ich stand oben im Turmzimmer, als der Sturm begann, und etwas ... warnte mich. Ich war feige und floh hierher, zu Elah und den anderen, um zu sterben.« Sie schwieg wieder, länger als eine Minute, und diesmal nicht aus Schwäche, sondern einfach, weil die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten.