»Hat sich jemand die Autonummer merken können?«
»Nope, es war dunkel und ging alles viel zu schnell.«
»Konnte die Frau den Mann richtig erkennen? Habt ihr eine Beschreibung?«
»Sure. Sort of. Wie gesagt, es war dunkel.«
»Wir haben ein Bild mit. Haben Sie eine Adresse, wo wir die Frau finden können?«
Larsen ging zum Archivschrank und begann zu suchen. Er atmete schwer.
»Übrigens«, begann Harry, »wissen Sie, ob sie blond ist?«
»Blond?«
»Ja, hat sie helles, faßt weißes Haar?«
Larsens Doppelkinn begann sich zu schütteln, wobei er noch schwerer atmete, und Harry begriff erstaunt, daß er lachte.
»Nein, das glaube ich nicht, mate. Sie ist eine Koori!«
Harry blickte Andrew fragend an. Andrew schaute zur Decke. »Sie ist schwarz«, sagte er.
»Wie Kohle«, sagte Larsen.
»Dann sind die Koori ein Stamm?« fragte Harry, als sie von der Polizeistation wegfuhren.
»Nun, nicht ganz«, erwiderte Andrew.
»Nicht ganz?«
»Das ist eine lange Geschichte, aber als die Weißen nach Australien kamen, verteilten sich die 750.000 Ureinwohner auf sechs- bis siebenhundert Stämme. Sie sprachen mehr als 250 Sprachen, und viele davon waren so unterschiedlich wie Englisch und Chinesisch. Aber Pulver und Blei, fremde Krankheiten, gegen die die Eingeborenen keine Abwehrkräfte hatten, Integration und all die anderen Güter, die die Weißen mitbrachten, verringerten die ursprüngliche Bevölkerung dramatisch. Manche Stämme starben vollkommen aus. Als die ursprüngliche Stammesstruktur verschwand, begann man allgemeine Bezeichnungen für die Übriggebliebenen zu suchen. Die Aborigines, die hier im Südwesten leben, werden Kooris genannt.«
»Aber warum hast du nicht zuerst überprüft, ob sie blond war?«
»Ein Fehler. Ich muß das falsch gelesen haben. Flimmern die Bildschirme in Norwegen nicht auch manchmal?«
»Zum Teufel, Andrew, wir haben keine Zeit für solche Longshots!«
»Doch, haben wir. Und wir haben auch die Zeit für etwas, das dir bessere Laune machen wird«, rechtfertigte sich Andrew und bog plötzlich nach rechts ab.
»Wohin fahren wir?«
»Auf eine australische Landwirtschaftsmesse, echte Ware.«
»Landwirtschaftsmesse? Ich habe heute eine Verabredung zum Essen, Andrew.«
»Oha, mit Miß Sverige vielleicht? Reg dich ab, das geht schnell. Und übrigens, ich gehe davon aus, daß du dir als Repräsentant der Anklage über die Konsequenzen im klaren bist, wenn du dich mit einer potentiellen Zeugin einläßt?«
»Dieses Essen steht natürlich in eindeutigem Zusammenhang mit den Ermittlungen. Es geht um wichtige Fragen.«
»Of course.«
Der Messeplatz lag auf einem freien Feld mit einigen verstreuten Fabrikhallen und Garagen als einzigen Nachbarn. Der letzte Durchgang des Traktorrennens war gerade vorüber, und die Abgase waberten noch dicht über den Boden, als sie vor einem großen Zelt anhielten. Der Platz summte vor Aktivität, an den verschiedensten Ständen wurde gerufen und geschrien, und wirklich alle schienen ein Glas Bier in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen zu haben.
»Feiern und Handeln in seiner schönsten Verbindung«, grinste Andrew, »So etwas habt ihr in Norwegen nicht.«
»Äh, wir haben etwas, das wir martnad nennen.«
»Maar …«, versuchte sich Andrew.
»Never mind.«
An der Zeltplane hingen große Plakate. »The Jim Chivers Boxing- Team« stand dort mit großen roten Buchstaben geschrieben. Darunter hing ein Bild von zehn Boxern, die offensichtlich das Team ausmachten. Daneben waren konkrete Daten wie Namen, Alter, Geburtsort und Gewicht angegeben und ganz unten auf dem Plakat stand: »The Challenge, Are you up to it?«
Im Innern des Zeltes wärmte sich bereits der erste Boxer im Ring auf. Er trug einen Morgenmantel aus einem glatten, glänzenden Stoff, während er in dem bleichen Licht, das von der Zeltkuppel herabstrahlte, gegen seinen eigenen Schatten boxte. Ein älterer, untersetzter Mann in einem etwas abgenutzten Smoking betrat – unter großem Jubel – den Ring. Er war ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal hier, denn die Menschen begannen, seinen Namen zu rufen: »Ter-ry, Ter-ry!«
Mit einer selbstbewußten Geste brachte er sie zum Schweigen und ergriff das Mikrophon, das von der Decke herabhing: »Ladies and Gentlemen! Who'll take the glove?« Großer Jubel. Danach folgte eine längere ausgeschmückte Rede über the noble art of self-defence, die fast ein Ritual zu sein schien. Es ging um Ehre und Berühmtheit und die starrsinnige Einstellung der Behörden zum Boxen, das mit Ausdrücken verfolgt werde, die einem Exorzisten würdig seien. Das Ganze endete aber damit, daß der Redner seine Frage wiederholte: »Who'll take the glove?«
Mehrere Arme schossen empor, und Terry winkte sie zu sich. Sie stellten sich hintereinander an einem Tisch auf und wurden gebeten, etwas zu unterschreiben.
»Was passiert jetzt?« fragte Harry.
»Das sind junge Leute aus der Gegend, die versuchen wollen, einen von Jim Chivers' Boxern herauszufordern und zu besiegen. Wenn es ihnen gelingt, winkt eine große Prämie und, noch wichtiger, lokale Ehre und Berühmtheit. Jetzt unterschreiben sie eine Erklärung, daß sie gesund und schnell sind und ihnen bewußt ist, daß der Veranstalter jedwede Haftung für eine plötzliche Gesundheitsverschlechterung ablehnt«, erklärte Andrew.
»Mein Gott, ist das legal?«
»Mmmh«, Andrew druckste herum, »1971 gab es eine Art Verbot, so daß sie die Form etwas ändern mußten. Aber das ist eine Art von Unterhaltung, die in Australien eine lange Tradition hat, verstehst du. Sie haben seinen Namen geklaut, der wirkliche Jim Chivers war der Leiter eines Boxteams, das nach dem Zweiten Weltkrieg im ganzen Land auf Messen und Jahrmärkten auftrat. Der Kerl war eine Institution. Viele der späteren Meister kamen aus Jimmys Boxteam. Dort gab es immer eine Vielzahl von Nationalitäten: Chinesen, Italiener, Griechen und Aborigines. Die Menschen, die an dem Wettkampf teilnahmen, konnten selber wählen, gegen wen sie boxen wollten. So daß du dir, wenn du zum Beispiel Antisemit warst, einen Juden wählen konntest. Auch wenn die Chance, dann von einem Juden verdroschen zu werden, ziemlich groß war.«
Harry mußte lächeln. »Verstärkt das nicht noch den Rassismus in einem Volk?«
Andrew kratzte sich am Kinn.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist das eine Möglichkeit, unterdrückte Aggressionen loszuwerden. Die Menschen in Australien sind es gewohnt, mit vielen Rassen und den unterschiedlichsten Kulturen zusammenzuleben, und im großen und ganzen funktioniert das recht gut. Aber irgendwelche Probleme gibt es ja immer. Und dann ist es doch besser, in einem Boxring aufeinander loszugehen als auf offener Straße. Nimm, zum Beispiel, die Kämpfe zwischen den Weißen und den Aborigines. Diese Kämpfe interessieren die Menschen immer am meisten. Ein Aborigine, der es in Jimmys Team zu etwas brachte, konnte unter den Seinen in seinem Dorf schnell zum Helden werden. Er schaffte so etwas wie Zusammenhalt und Ehrgefühl in all der Erniedrigung. Ich glaube nicht, daß die Kluft zwischen den Rassen dadurch tiefer wird. Wenn die weißen Jungs von einem Schwarzen verdroschen werden, dann führt das wohl eher zu Respekt als zu Haß. So gesehen sind die Australier ein sportliches Volk.«