Harry streichelte ihren Nacken.
»Willst du etwas Richtiges wissen? Ein Geheimnis?«
Sie nickte.
»Aber Geheimnisse teilen, das verbindet«, flüsterte Harry in ihre Haare, »und nicht immer hört man das, was man sich wünscht.«
Sie standen still im Flur. Harry hielt den Atem an.
»Ich war mein ganzes Leben von Menschen umgeben, die mich gern hatten. Ich habe immer alles bekommen, wonach ich gefragt habe. Ich habe, mit anderen Worten, keine Erklärung dafür, warum ich das wurde, was ich bin.«
Ein Windhauch vom Fenster strich Harry so mild und leicht über die Haare, daß er die Augen schließen mußte.
»Alkoholiker.«
Er sprach das Wort hart und ziemlich laut aus. Birgitta schmiegte sich regungslos an ihn.
»Es gehört schon einiges dazu, einem öffentlichen Beamten in Norwegen zu kündigen. Unfähigkeit alleine reicht nicht aus, Faulheit existiert nicht und deinen Chef kannst du soviel beschimpfen wie du willst, no problem. Ehrlich gesagt, du kannst so ziemlich alles machen, das Recht ist meistens auf deiner Seite. Nur nicht trinken. Wenn du mehr als zweimal betrunken im Polizeidienst erscheinst, ist das Grund genug für eine fristlose Kündigung. Eine Zeitlang war es leichter, die Tage zu zählen, an denen ich nüchtern erschienen bin.«
Er nahm seinen Arm weg und schob sie ein Stück von sich weg. Er wollte ihre Reaktion sehen. Dann zog er sie wieder an sich.
»Trotzdem, alles ging irgendwie seinen Weg, und diejenigen, die etwas ahnten, schauten weg. Manch einer hätte vielleicht etwas sagen sollen, aber Loyalität und Zusammenhalt werden bei der Polizei großgeschrieben. Eines Abends fuhren ein Kollege und ich zu einer Terrassenwohnung oben am Holmenkolläs, um einem Kerl ein paar Fragen zu einem Mord im Drogenmilieu zu stellen. Er wurde nicht einmal verdächtigt, aber als wir vor seiner Tür standen und klingelten und sahen, wie er mit einem Wahnsinnstempo aus der Tiefgarage geschossen kam, warfen wir uns in den Wagen und nahmen die Verfolgung auf. Mit Blaulicht auf dem Dach rasten wir mit einhundertzehn den Sørkedalsvei hinunter. Es ging ein bißchen nach rechts und links, und wir fuhren ein paarmal auf die Bordsteinkante, und mein Kollege fragte, ob nicht vielleicht er fahren sollte, aber ich war so sehr damit beschäftigt, mich von dem Mann nicht abhängen zu lassen, daß ich das einfach mit einer Geste abtat.«
Was später geschehen war, wußte er nur aus Erzählungen. In der Höhe von Vindern war ein Auto aus einer Tankstellenausfahrt gekommen. In dem Auto hatte ein Junge gesessen, der gerade erst den Führerschein gemacht und an der Tankstelle Zigaretten für seinen Vater geholt hatte. Die beiden Polizisten waren mit dem Wagen kollidiert und hatten ihn mit sich durch den Zaun auf die Schienen gerissen. Dabei hatten sie einen Unterstand bei der Bushaltestelle niedergemäht, unter dem noch zwei Minuten zuvor sechs Menschen gewartet hatten. Auf dem Gleis am anderen Ende der Schienen hatte ihre Fahrt ein abruptes Ende gefunden. Harrys Kollege war durch die Windschutzscheibe geschleudert worden. Er wurde zwanzig Meter weiter vorne neben den Schienen gefunden. Mit seinem Kopf hatte er ein Schild getroffen, das durch die Wucht abgeknickt war. Sie hatten seine Fingerabdrücke nehmen müssen, um ihn zu identifizieren. Der Junge in dem anderen Auto war vom Hals ab gelähmt.
»Ich habe ihn an einem Ort namens Sunnäs besucht«, sagte Harry, »er träumt noch heute davon, eines Tages wieder Auto zu fahren. Mich haben sie mit gebrochenem Schädel und schweren inneren Blutungen im Auto gefunden. Ich bin ein paar Wochen lang künstlich beatmet worden.
Mutter kam jeden Tag zusammen mit meiner Schwester. Sie saßen an meinem Bett und hielten meine Hand. Vater kam abends, außerhalb der Besuchszeit. Weil ich infolge der schweren Gehirnerschütterung Wahrnehmungsstörungen hatte, durfte ich weder lesen noch fernsehen. Also hat Vater mir vorgelesen. Er saß an meinem Bett und flüsterte mir ins Ohr, um mich nicht zu sehr zu erschöpfen.
Ich hatte einen Mann getötet und das Leben eines anderen zerstört, trotzdem lag ich in einem Kokon aus Liebe und Fürsorge. Und das erste, was ich tat, als ich wieder in einem Mehrbettzimmer lag, war, meinen Nebenmann zu bestechen, damit der seinen Bruder dazu brachte, mir eine Flasche Gin zu kaufen.«
Harry hielt inne. Birgittas Atem ging ruhig und gleichmäßig.
»Bist du schockiert?« fragte er.
»Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß du Alkoholiker bist«, anwortete Birgitta. »Mein Vater ist Alkoholiker.«
Harry wußte nicht, was er dazu sagen sollte.
»Erzähle weiter«, bat sie.
»Der Rest … der Rest betrifft die norwegische Polizei. Das brauchst du eigentlich nicht zu wissen.«
»Norwegen ist weit weg«, sagte sie.
Harry gab ihr schnell einen Kuß.
»Für heute hast du genug gehört«, sagte er. »Die Fortsetzung folgt beim nächsten Mal. Ich muß jetzt los. Ist es in Ordnung, wenn ich auch heute abend ins Albury komme und dich von der Arbeit abhalte?«
Birgitta lächelte etwas traurig – und Harry spürte, daß er sich viel tiefer in diese Sache verstrickte als gut war.
»Sie kommen spät«, stellte Wadkins fest, als Harry das Büro betrat. Er legte einen Stapel Kopien auf seinen Schreibtisch.
»Jetlag. Gibt es etwas Neues?« fragte Harry.
»Ich hab hier etwas Lesestoff für Sie. Yong Sue hat alte Vergewaltigungsfälle ausgegraben. Er und Kensington schauen sich das gerade an.«
Harry brauchte erst einmal eine richtige Tasse Kaffe und ging in die Kantine hoch. Dort stieß er auf einen gutgelaunten McCormack. Sie setzten sich jeder mit einem White flat an einen Tisch.
»Das Justizministerium hat angerufen. Sie sind dort vom norwegischen Justizministerium angerufen worden. Ich habe gerade mit Wadkins gesprochen und erfahren, daß Sie jemanden auf dem Kieker haben?«
»Evans White. Vielleicht. Er behauptet, ein Alibi für den Mordzeitpunkt zu haben. Wir haben die Polizei in Nimbin gebeten, die Frau, mit der er zusammengewesen sein will, zu verhören, um die Geschichte zu überprüfen. White hat die Anordnung erhalten, am Ort zu bleiben.«
McCormack grunzte.
»Sie haben den Kerl mit eigenen Augen gesehen, Holy, ist er es?«
Harry schaute in seinen Kaffee. Die weißen Milchspiralen wirbelten wie Sternennebel in der Tasse herum.
»Um mit einer Analogie zu sprechen, Sir, wußten Sie, daß das Milchstraßensystem ein Spiralnebel mit mehr als hunderttausend Millionen Sternen ist? Daß man, wenn man tausend Jahre lang mit Lichtgeschwindigkeit im rechten Winkel durch einen dieser Spiralarme fliegt, doch erst die halbe Strecke zurückgelegt hat? Ganz zu schweigen davon, wie lange es dauern würde, längs durchzufliegen, oder gar durch die ganz Milchstraße …«
»Sie sind mir für den frühen Morgen doch ein wenig zu philosophisch. Was wollen Sie damit sagen, Holy?«
»Daß die Natur des Menschen ein großer, dunkler Wald ist, in dem sich niemand im Laufe eines kurzen Menschenlebens richtig auskennt – daß ich keine Ahnung habe, Sir.«
McCormack schaute Harry an. Er sah besorgt aus.
»Sie fangen an, sich wie Kensington anzuhören, Holy. Vielleicht war es doch ein Fehler von mir, Sie beide zusammenarbeiten zu lassen, in dem Gehirn dieses Kerls spielt sich so viel Merkwürdiges ab.«
Yong legte eine Folie auf den Projektor.
»Jedes Jahr werden in diesem Land etwa fünftausend Vergewaltigungen gemeldet. Es versteht sich von selbst, daß es unmöglich ist, bei solch einer Auswahl ein Muster zu erkennen, ohne die Statistik anzuwenden. Ganz einfache, rationale Statistik. Stichwort Nummer eins: Signifikanz. Wir suchen mit anderen Worten nach einer Systematik, die nicht über statistische Zufälle zu erklären ist. Stichwort Nummer zwei: Demographie.