Ich habe zuerst nach Angaben in Verbindung mit unaufgeklärten Mordfällen oder Vergewaltigungen gesucht, die die Worte ›Würgen‹ oder ›Erdrosseln‹ beinhalteten. Dabei bin ich auf zwölf Morde und ein paar hundert Vergewaltigungen gestoßen. Dann habe ich die Auswahl reduziert, indem ich eingegeben habe, daß es sich bei den Opfern um blonde Frauen zwischen 16 und 35 handeln muß, noch dazu von der Ostküste. Die öffentliche Statistik und unsere eigenen Daten vom Paßamt zeigen, daß diese Gruppe weniger als fünf Prozent der weiblichen Gesamtbevölkerung ausmacht. Trotzdem blieben es sieben Morde und mehr als vierzig Vergewaltigungen.«
Yong legte eine neue Folie mit einer Prozentzahl und einem Säulendiagramm auf den Projektor. Er ließ die anderen lesen, ohne es zu kommentieren. Ein betretenes Schweigen folgte. Wadkins war der erste, der das Wort ergriff:
»Heißt das, daß …«
»Nein«, sagte Yong. »Das heißt nicht, daß wir mehr wissen als vorher. Die Zahlen sind zu vage.«
»Aber wir können zum Beispiel annehmen«, sagte Andrew, »daß dort draußen ein Kerl herumrennt, der systematisch blonde Frauen vergewaltigt und sie etwas weniger systematisch ermordet. Und dem es Spaß macht, seine Hände um einen Frauenhals zu legen.«
Plötzlich wollten alle gleichzeitig reden, und Wadkins mußte um Ruhe bitten. Harry bekam zuerst das Wort:
»Warum ist dieser Zusammenhang nicht bereits vorher aufgedeckt worden? Wir reden schließlich von sieben Morden und vierzig bis fünfzig Vergewaltigungen, die irgendwie miteinander zu tun haben können?«
Yong Sue zuckte mit den Schultern.
»Vergewaltigungen sind leider auch in Australien an der Tagesordnung, und man widmet ihnen vielleicht nicht immer soviel Aufmerksamkeit, wie man erwarten dürfte.«
Harry nickte. Er sah keinen Anlaß, sich über die Verhältnisse im eigenen Land zu brüsten.
»Außerdem suchen sich die meisten Vergewaltiger ihre Opfer in der Stadt oder an dem Ort, in dem sie wohnen, und sie verschwinden auch anschließend nicht. Deshalb gibt es bei gewöhnlichen Vergewaltigungen keine systematische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Staaten. Das Problem bei den Fällen, die ich in meiner Auswahl habe, ist aber die geographische Verbreitung.«
Yong deutete auf die Liste mit Namen und Daten.
»An einem Tag in Melbourne, im nächsten Monat in Cairns und die Woche darauf in Newcastle. Vergewaltigungen in drei verschiedenen Teilstaaten in weniger als zwei Monaten. Manchmal mit Hut, manchmal mit Maske und mindestens einmal mit einem Nylonstrumpf, und einige Opfer haben ihren Vergewaltiger überhaupt nicht gesehen. An Tatorten gibt es alles, dunkle Nebenstraßen und Parks, manche haben ihre Opfer in Autos gezerrt, und wieder andere sind nachts bei ihnen eingebrochen. Kurz gesagt, es gibt kein Muster, abgesehen davon, daß die Opfer blond sind, gewürgt wurden und nicht eine den Mann beschreiben konnte.
Doch, eine Sache gibt es noch. Wenn er tötet, ist er sehr gründlich. Leider. Mit größter Wahrscheinlichkeit wäscht er seine Opfer, um alle Spuren, die auf ihn deuten könnten, zu entfernen; Fingerabdrücke, Sperma, Kleiderfetzen, Haare, die Haut unter den Nägeln der Opfer und so weiter. Aber darüber hinaus gibt es nichts, das uns in irgendeiner Weise an einen Serienmörder erinnert: keine Spur von grotesken Ritualen oder einer Botschaft an die Polizei nach dem Motto ›Ich war hier‹. Nach den drei Vergewaltigungen in zwei Monaten war es über ein halbes Jahr ruhig. Vorausgesetzt, er hat nichts mit den anderen Vergewaltigungen zu tun, die in diesem Jahr gemeldet wurden. Aber das können wir ja nicht sagen.«
»Was ist mit den Morden?« fragte Harry. »Hätten da nicht die Alarmsirenen klingeln müssen?«
Yong schüttelte den Kopf.
»Sie liegen räumlich so weit auseinander. Wenn die Polizei in Brisbane ein Vergewaltigungsopfer findet, sucht sie den Täter nicht zuerst in Sydney. Außerdem liegen die Morde auch zeitlich so weit auseinander, daß es einfach schwierig war, da einen Zusammenhang zu erkennen. Tod durch Erwürgen ist bei Vergewaltigungen wirklich nichts Besonderes.«
»Gibt es denn keine funktionierende Bundespolizei in Australien?« fragte Harry.
Die anderen um ihn herum lächelten. Harry ging nicht darauf ein und wechselte das Thema.
»Wenn es sich um einen Serienmörder handelt …«, begann Harry.
»Dann hat er oft ein Muster, ein Thema«, fuhr Andrew fort. »Aber dieser hier nicht, oder?«
Yong nickte. »Es gibt sicher den einen oder anderen bei der Polizei, der sich in den letzten Jahren mit der Frage beschäftigt hat, ob es sich nicht um einen Serientäter handeln könnte. Wahrscheinlich hat er sich die alten Sachen aus den Archiven geholt und verglichen, aber die Variationen waren ganz einfach zu groß, um diese These zu unterstützen.«
»Wenn es sich um einen Serientäter handelt, hat er dann nicht einen mehr oder weniger großen Drang, gefaßt zu werden?« fragte Lebie. Wadkins räusperte sich. Das war sein Fachgebiet.
»Das wird in der Fachliteratur oft so dargestellt«, sagte er, »daß es sich bei den Verbrechen um eine Art Hilferuf handelt und er kleine codierte Nachrichten und Spuren hinterläßt, quasi ein Indiz für den unbewußten Wunsch, von jemandem gestoppt zu werden. Und manchmal stimmt das auch. Aber ich befürchte, daß es so einfach nicht ist. Die meisten Serienmörder verhalten sich wie ganz normale Menschen; sie wollen nicht gefaßt werden. Und wenn es sich hier tatsächlich um einen Serientäter handelt, dann hat er uns wirklich nicht viele Anhaltspunkte gegeben. Es gibt hier ein paar Sachen, die mir gar nicht gefallen …«
Er zog seine Oberlippe hoch und entblößte eine Reihe gelber Zähne. »Erstens, daß er ganz offensichtlich kein Muster für die Morde hat, abgesehen davon, daß die Opfer blond sind und er sie erwürgt. Das kann darauf hindeuten, daß er die Morde als einzigartige Begebenheiten ansieht, als eine Art Kunstwerk, das sich von allem abheben soll, was er bisher gemacht hat. Und das macht die Sache für uns nur noch schwieriger. Die andere Möglichkeit aber ist, daß unter all dem doch ein Muster liegt, das wir aber noch nicht erkennen. Es kann aber auch bedeuten, daß er seine Morde überhaupt nicht plant, diese aber in gewissen Situationen notwendig werden, zum Beispiel, weil die Opfer sein Gesicht gesehen, Widerstand geleistet und nach Hilfe geschrien haben oder sonst irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen ist.«
»Vielleicht hat er nur dann gemordet, wenn er keinen hoch gekriegt hat?« grunzte Lebie.
»Vielleicht sollten wir mal einen Psychologen bitten, sich der Sache anzunehmen«, schlug Harry vor. »Es könnte ja sein, daß die uns ein psychologisches Profil erstellen, das uns weiterhilft.«
»Vielleicht«, sagte Wadkins. Er sah aber aus, als denke er an etwas vollkommen anderes.
»Und zweitens, Sir?« fragte Yong.
»Was?« Wadkins erwachte.
»Sie sagten ›erstens‹. Was ist das zweite, was Ihnen nicht gefällt?«
»Daß er ganz plötzlich aufhört«, sagte Wadkins. »Es kann natürlich ganz praktische Gründe dafür geben. Daß er verreist ist oder krank. Aber vielleicht macht er sich auch Gedanken darüber, daß ihm jemand auf die Spur kommen könnte. Und dann hört er auf. Just like that!« Er schnippte mit den Fingern.
»Und wenn es so ist, dann haben wir es wirklich mit einem gefährlichen Mann zu tun. Dann ist er diszipliniert und schlau und wird eben nicht von diesem selbstzerstörerischen Trieb geleitet, der zu guter Letzt die meisten Serienmörder entlarvt. Einen kalkulierenden, klugen Mörder werden wir kaum kriegen, bevor er nicht ein gewaltiges Blutbad angerichtet hat. Wenn es uns denn überhaupt gelingt.«
Eine düstere Stille breitete sich im Raum aus. Harry lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte von Serienmördern gelesen, die nie gefaßt worden waren und wo die Nachforschungen der Polizei auf der Stelle traten, weil die Morde plötzlich aufgehört hatten. Bis heute wußte man nicht, ob die Mörder am Leben und vielleicht nur vorübergehend in Deckung gegangen waren.