»Konstabel Kensington hat mich angerufen und gefragt, wer Inger Holter in der Zeit, in der sie hier gewohnt hat, besucht hat. Und da habe ich erzählt, daß ich oben in ihrem Zimmer gewesen bin und das Bild gesehen habe, das an ihrer Wand hing, und mir dabei eingefallen ist, daß ich den jungen Mann mit dem Kind auf dem Schoß gesehen habe.«
»Ach ja?«
»Ja, der Mann war, soweit ich weiß, zweimal hier. Beim ersten Mal haben sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und es fast zwei Tage lang getrieben. Sie waren sehr … äh, … laut. Ich hatte schon Sorge wegen der Nachbarn und habe dann laute Musik laufen lassen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Inger und diesen Typen, meine ich. Auch wenn ich nicht gerade den Eindruck hatte, daß sie das gestört hätte. Das zweite Mal war er nur ganz kurz hier, bevor er wieder abdampfte.«
»Haben sie sich gestritten?«
»Das kann man wohl sagen, ja. Sie hat ihm nachgeschrien, daß sie dieser Tussi erzählen würde, was für ein Arschloch er sei. Und daß sie einen gewissen Mann über seine Pläne informieren würde.«
»Einen gewissen Mann?«
»Ja, sie hat einen Namen genannt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»Und diese Tussi? Wer kann das sein?« fragte Andrew.
»Ich versuche mich aus dem Privatleben meiner Mieter herauszuhalten, Konstabel.«
»Das Bier ist sehr gut, Mr. Robertson. Wer ist die Tussi?« Andrew tat so, als habe er Robertsons letzten Satz nicht gehört.
»Wenn man das nur wüßte.« Robertson zögerte, wobei sein Blick von einem zum andern huschte. »Sie ist wahrscheinlich wichtig für die Ermittlungen, nicht wahr?« Die Frage blieb irgendwie zwischen ihnen in der Luft hängen, aber nicht allzu lange, denn Andrew knallte seine Bierflasche auf den Tisch und lehnte sich vor, so daß sein Gesicht unmittelbar vor dem von Robertson war.
»Sie haben zuviel ferngesehen, Robertson. Im wirklichen Leben schieben wir Ihnen jetzt nämlich keine Hundertdollarnote über den Tisch, worauf Sie uns leise einen Namen zuflüstern und wir dann ohne weiteren Kommentar verschwinden. Im wirklichen Leben rufen wir jetzt Verstärkung, die dann in einem Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene angerauscht kommt, Ihnen Handschellen anlegt und Sie, peinlich oder nicht, abführt, während die ganze Nachbarschaft zusieht. Dann bringen wir Sie zur Wache, stellen Ihnen eine Glühbirne vor die Nase und sperren Sie, falls Sie noch immer nichts gesagt haben oder Ihr Anwalt inzwischen aufgetaucht ist, über Nacht als ›möglichen Verdächtige‹ ein. Im wirklichen Leben werden Sie im schlimmsten Fall verurteilt, Informationen zurückgehalten und damit einen Mordfall gedeckt zu haben. Und das macht Sie automatisch mitschuldig und wird mit bis zu sechs Jahren Gefängnis bestraft. Also, was wollen Sie, Mr. Robertson?«
Robertson war blaß geworden. Er öffnete ein paarmal den Mund, ohne daß ein Laut zu hören war, und sah dabei aus wie ein Aquarienfisch, der soeben begriffen hatte, daß er nicht gefüttert wurde, sondern selbst das Futter war.
»Ich, ich … ich wollte damit nicht andeuten, daß …«
»Zum letzten Maclass="underline" Wer ist diese Tussi?«
»Ich glaube, die auf dem Foto … die, die hier war …«
»Welches Foto?«
»Sie steht auf dem Foto oben im Zimmer hinter Inger und dem Mann mit dem Kind. Die kleine Braune mit dem Stirnband. Ich habe sie wiedererkannt, weil sie vor ein paar Wochen hier war und nach Inger gefragt hat. Ich habe Inger geholt, und sie blieben auf der Treppe stehen und redeten. Schließlich wurde es laut, und die beiden haben sich gegenseitig nach Strich und Faden beschimpft. Dann knallte die Tür, und Inger rannte weinend die Treppe hoch in ihr Zimmer. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Holen Sie uns bitte das Bild, Mr. Robertson. Ich habe die Kopien im Büro gelassen.«
Robertson zeigte sich hilfsbereit und stürmte in Ingers Zimmer. Als er wieder zurück war, reichte Harry nur ein flüchtiger Blick, um zu erkennen, wer die Frau war, die Robertson meinte.
»Schon als wir sie getroffen haben, hat sie mich an irgendwen erinnert«, sagte Harry.
»Das ist ja unsere gutherzige Mutter«, stellte Andrew verblüfft fest.
»Ich denke, ihr richtiger Name ist Angeline Hutchinson.«
Der tasmanische Teufel war nirgends zu sehen, als sie gingen.
»Hast du dich selbst schon einmal gefragt, warum dich alle Konstabel nennen, Detektiv Kensington?« fragte Harry, als sie sich ins Auto setzten.
»Das hat wohl mit meinem vertraueneinflößenden Wesen zu tun. Konstabel, das hört sich doch an wie ›gutmütiger Onkel‹, nicht wahr?« sagte Andrew vergnügt. »Und ich bringe es einfach nicht übers Herz, alle zu korrigieren.«
»Ja, du bist der reinste Schmusebär«, lachte Harry.
»Koalabär«, korrigierte Andrew.
»… bis zu sechs Jahren Gefängnis«, amüsierte sich Harry, »du Lügner!«
»Was anderes ist mir nicht eingefallen«, antwortete Andrew.
7
Terra Nullius, ein Zuhälter und Nick Cave
Es regnete in Sydney. Das Wasser hämmerte auf den Asphalt, spritzte an den Hauswänden hoch und verwandelte sich in nur wenigen Minuten zu kleinen Strömen, die durch die Gossen rauschten. Die Menschen sprangen auf der Suche nach Schutz umher, während das Wasser unter ihren Fußsohlen klatschte. Einige hatten ganz offensichtlich der morgendlichen Wettervorhersage vertraut und Regenschirme mitgenommen. Jetzt entfalteten sie sich wie große, farbenfrohe Schildkrötenpanzer im Straßenbild. Andrew und Harry warteten an einer roten Ampel auf der William Street am Hyde Park.
»Erinnerst du dich an den Aborigine, der neulich abends in dem kleinen Park beim Albury saß?« fragte Harry.
»Im Green Park?«
»Er wollte dich grüßen, aber du hast seinen Gruß nicht erwidert – warum eigentlich nicht?«
»Ich kannte ihn nicht.«
Es würde Grün, und Andrew drückte das Gaspedal nach unten.
Das Albury war fast menschenleer, als Harry eintrat.
»Du bist aber früh«, sagte Birgitta. Sie stellte saubere Gläser in die Regale.
»Ich dachte mir, daß der Service sicher besser ist, bevor der große Run losgeht.«
»Bei uns kriegen alle etwas.« Sie kraulte Harry am Kinn. »Was möchtest du?«
»Nur einen Kaffee.«
»Der geht aufs Haus.«
»Danke, Schatz.«
Birgitta lachte. »Schatz? So nennt mein Vater meine Mutter.« Sie setzte sich auf einen Hocker und lehnte sich über den Tresen zu Harry hinüber. »Und eigentlich sollte es mich wohl nervös machen, wenn mir ein Kerl, den ich noch nicht einmal eine Woche kenne, einen Kosenamen gibt.«
Harry sog ihren Duft ein. In der Wissenschaft weiß man noch immer so gut wie gar nichts darüber, wie der Geruchssinn im Gehirn die Nervenimpulse der Riechzellen in bewußte Sinneseindrücke umsetzen kann. Aber Harry dachte nicht so sehr an das Warum, er spürte bloß, daß allerlei merkwürdige Dinge in seinem Kopf und seinem Körper abliefen, wenn er ihren Geruch wahrnahm. Daß zum Beispiel seine Augenlider ein wenig sanken, die Mundwinkel sich zu einem breiten Grinsen nach oben zogen und seine Laune merklich besser wurde.
»Entspann dich«, sagte er, »weißt du nicht, daß ›Schatz‹ zu den ungefährlichen Kosenamen gehört?«
»Ich wußte nicht einmal, daß es ungefährliche Kosenamen gibt.«
»Aber klar. Denk doch nur an ›Liebling‹, ›Engel‹ oder ›Kätzchen‹.«
»Und was, bitte, sind dann die gefährlichen?«
»Tja, ›Knuddelpuddel‹ ist ganz gefährlich«, sagte Harry.
»He? Was ist das denn?«
»Knuddelpuddel, Schmusidusi, Babbelchen. So Teddybärnamen, weißt du. Das Wichtige daran ist, daß das keine abgegriffenen, unpersönlichen Namen sind, sondern ganz private, intime Worte. Oft werden die dann auch noch durch die Nase gesprochen, so daß sie diesen nasalen Klang kriegen, wie wenn man mit Kindern spricht. Dann hat man wirklich einen Grund, einen klaustrophobischen Anfall zu bekommen.«
»Hast du noch mehr Beispiele?«
»Wie war das mit dem Kaffee?«