Birgitta schlug mit dem Handtuch nach ihm. Dann goß sie Kaffee in eine große Tasse. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, und Harry bekam Lust, sich über den Tresen zu lehnen und ihre Haare zu berühren.
»Jetzt bin ich dann wieder an der Reihe. Ich will den Rest der Geschichte hören«, sagte sie und setzte sich hin. Sie legte ihre Hand auf die seine. Harry trank einen Schluck Kaffee und schaute sich um. Dann holte er tief Luft.
»Er hieß Stiansen, mein Kollege. Sein Vorname war Ronny. Der Name eines Draufgängers. Aber eigentlich war er keiner. Er war ein lieber, hilfsbereiter Junge, der seinen Beruf als Polizist sehr gerne ausübte. Meistens jedenfalls. Als die Beerdigung stattfand, wurde ich noch immer künstlich beatmet. Der Chef unserer Dienststelle besuchte mich später im Krankenhaus. Er richtete mir auch die Grüße der Polizeipräsidentin aus, und eigentlich hätte ich da schon Lunte riechen müssen. Aber ich war nüchtern und meine Laune alles andere als gut. Die Schwester hatte herausbekommen, daß ich Alkohol ins Krankenhaus hatte schmuggeln lassen, und meinen Zimmernachbarn in ein anderes Zimmer verlegt. Ich hatte zwei Tage nichts getrunken. ›Ich weiß, woran Sie denken‹, hatte mein Chef gesagt, ›aber vergessen Sie es, Sie haben einen Job zu erledigen.‹ Er glaubte damals, ich dächte an Selbstmord. Er irrte sich. Ich dachte daran, wie ich etwas zu trinken auftreiben konnte.
Mein Chef ist ein Mensch, der nicht lange um den heißen Brei herumredet. ›Stiansen ist tot, Sie können nichts mehr für ihn tun‹, hatte er gesagt. ›Die einzigen, denen Sie helfen können, sind Sie selbst und Ihre Familie. Und uns. Haben Sie die Zeitung gelesen?‹ Ich antwortete ihm, daß ich überhaupt nichts gelesen, sondern mein Vater mir ein paar Bücher vorgelesen hätte und daß wir, auf meinen Wunsch hin, kein Wort über den Unfall verloren hätten. Der Chef sagte, das sei schon in Ordnung. Daß es die Sache leichter machte, wenn ich mit niemandem darüber gesprochen hätte. ›Sie haben nämlich nicht am Steuer gesessen‹, sagte er. ›Oder, anders ausgedrückt, am Steuer hat kein besoffener Bulle aus Oslo gesessen.‹ Und dann fragte er mich, ob ich das begriffen hätte. Daß Stiansen gefahren sei. Derjenige von uns, dessen Blutprobe bewies, daß er stocknüchtern war. Er zeigte mir die wochenalten Zeitungen, und ich konnte mit meinem benebelten Blick erkennen, daß dort tatsächlich stand, der Fahrer des Wagens sei bei dem Unfall unmittelbar getötet worden, während sein Beifahrer mit lebensgefährlichen Verletzungen davongekommen war. ›Aber ich bin gefahren‹, sagte ich. ›Das bezweifle ich. Sie wurden auf dem Rücksitz gefunden‹, sagte der Chef. ›Denken Sie daran, daß Sie eine schwere Gehirnerschütterung hatten. Ich tippe, Sie können sich überhaupt nicht mehr an die Fahrt erinnern.‹ Natürlich begriff ich, worauf er hinaus wollte. Die Presse interessierte sich nur für die Blutprobe des Fahrers, und solange die in Ordnung war, kümmerte sich niemand um mich. Die Sache war so schon schlimm genug für die Polizei.«
Birgitta hatte eine tiefe Furche zwischen den Augen. Sie wirkte aufgewühlt.
»Aber wie konnte man Stiansens Eltern erzählen, daß er das Auto gefahren hatte? Diese Menschen müssen ja völlig gefühllos sein! Wie kann …?«
»Ich habe dir gesagt, daß die Loyalität innerhalb der Polizei groß ist. Manchmal wird mehr Rücksicht auf die Polizei als auf die Betroffenen genommen. Aber es ist gut möglich, daß Stiansens Familie in diesem Fall auch eine Version serviert bekommen hat, mit der sie leichter leben konnte. Laut meinem Chef hatte Stiansen das Risiko bei der Verfolgung eines mutmaßlichen Drogendealers und Mörders bewußt auf sich genommen, und ein Unfall im Dienst kann ja jedem passieren. Der Junge in dem anderen Auto war schließlich ein Fahranfänger, und es war ja nicht auszuschließen, daß ein anderer Fahrer die Situation anders eingeschätzt hätte und nicht vor uns auf die Straße gefahren wäre. Schließlich fuhren wir ja mit Blaulicht und Martinshorn.«
»Ja, und mit 110.«
»Wo man normalerweise fünfzig fährt, ja, ja, den Jungen trifft wohl keine Schuld. Es geht ganz einfach nur um die Argumentation. Warum mußte seine Familie wissen, daß ihr Sohn der Beifahrer war? Würde es den Eltern besser gehen, wenn man ihrem Sohn nachsagen würde, er habe völlig passiv einen betrunkenen Kollegen fahren lassen? Der Chef ist die Argumente immer wieder durchgegangen. Mein Kopf schmerzte so, daß ich glaubte, er würde zerspringen. Schließlich hing ich halb aus dem Bett und mußte kotzen, während die Schwester angestürmt kam. Am nächsten Tag besuchte mich Stiansens Familie. Die Eltern und eine jüngere Schwester. Sie brachten mir Blumen und hofften, daß ich bald wieder gesund werden würde. Der Vater sagte, er müsse mit sich selbst hart ins Gericht gehen, weil er nie konsequent genug gegen die Raserei seines Sohnes vorgegangen sei. Ich weinte wie ein Kind. Jede Sekunde war wie eine langsame Hinrichtung. Sie blieben über eine Stunde.«
»Mein Gott, was hast du ihnen gesagt?«
»Nichts. Sie haben geredet. Über Ronny. Welche Pläne er gehabt hatte, was er tun und lassen wollte. Über seine Freundin, die in den USA studierte. Daß er über mich gesprochen hätte. Daß ich ein tüchtiger Polizist und ein guter Freund sei. Einer, auf den er sich verlassen könnte.«
»Was geschah weiter?«
»Ich blieb zwei Monate im Krankenhaus. Der Chef hat mich noch ein paarmal besucht. Einmal wiederholte er, was er beim ersten Mal gesagt hatte. ›Ich weiß, woran Sie denken. Vergessen Sie es.‹ Und da hatte er recht. Ich wollte nur noch sterben. Es ist gut möglich, daß die Tatsache, die Wahrheit im dunkeln zu halten, etwas mit Altruismus zu tun hatte – zu lügen war dabei nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß ich meine eigene Haut rettete. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich habe viel darüber nachgedacht – laß mich versuchen, es dir zu erklären.
In den fünfziger Jahren gab es in den USA einen jungen Universitätsdozenten namens Charles Van Doren, der im ganzen Land bekannt war, weil er immer so souverän in einer Quizsendung auftrat, die landesweit ausgestrahlt wurde. Woche für Woche besiegte er seine Herausforderer. Die Fragen waren teilweise unglaublich schwierig, und alle waren stumm vor Bewunderung für diesen Mann, der anscheinend auf alles die richtige Antwort wußte. Er bekam begeisterte Zuschriften mit Heiratsangeboten, hatte seinen eigenen Fanclub, und seine Vorlesungen an der Universität waren natürlich überfüllt. Schließlich erzählte er bei einem öffentlichen Auftritt, daß die Programmproduzenten ihm alle Antworten vorher schon verraten hätten.
Auf die Frage, warum er die Schwindelei hatte auffliegen lassen, erzählte er von einem Onkel, der gegenüber seiner Frau, Van Dorens Tante, zugegeben hatte, untreu gewesen zu sein. Das hatte zu einiger Unruhe in der Familie geführt, und schließlich hatte Van Doren seinen Onkel gefragt, warum er dieses Geheimnis gelüftet habe. Der Seitensprung lag nämlich viele Jahre zurück, und er hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu der Frau gehabt. Der Onkel hatte ihm geantwortet, daß seine Untreue nicht das Schlimmste für ihn gewesen sei. Was er nicht ertragen habe können, sei, daß dieser Treuebruch unbemerkt geblieben war und er ungestraft davongekommen sei. Und genau so war es auch bei Charles Van Doren.
Ich glaube, die Menschen haben ein gewisses Bedürfnis nach Strafe, wenn sie ihre eigenen Handlungen nicht mehr länger akzeptieren können. Ich habe mich auf jeden Fall danach gesehnt, bestraft zu werden, gepeitscht zu werden, gequält, erniedrigt. Egal was, nur daß ich mit mir hätte abrechnen können. Aber es gab niemanden, der mich bestrafte. Sie konnten mir nicht einmal kündigen, offiziell war ich ja nüchtern gewesen. Statt dessen bekam ich eine öffentliche Auszeichnung von der Polizeipräsidentin, weil ich in Ausübung meines Dienstes so schwer verletzt worden war. Also habe ich mich selbst bestraft. Ich erlegte mir die härteste Strafe auf, an die ich denken konnte: Ich entschloß mich, weiterzuleben und nie wieder einen Tropfen zu trinken.«
In der Bar war es voller geworden. Birgitta signalisierte, daß sie gleich zur Verfügung stünde.