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»Und dann?«

»Ich bin wieder auf die Beine gekommen, habe wieder angefangen zu arbeiten. Länger und härter als alle anderen. Habe trainiert. Lange Spaziergänge gemacht. Bücher gelesen. Habe ein bißchen Rechtswissenschaften studiert. Den Kontakt mit üblen Freunden abgebrochen. Mit den guten übrigens auch. Denen, die noch übriggeblieben waren, nachdem der Alkohol die Übermacht gewonnen hatte. Ich weiß eigentlich nicht warum, es war wie ein Großreinemachen. Mein altes Leben mußte abgewickelt werden, Gutes wie Schlechtes. Ich habe mich hingesetzt und all jene angerufen, mit denen ich glaubte, in meinem alten Leben Kontakt gehabt zu haben, und gesagt: ›Hallo, wir können uns nicht mehr treffen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben.‹ Die meisten haben das akzeptiert. Ein paar waren wohl auch froh darüber. Einige behaupteten, ich würde mich einigeln. Nun, es kann sein, daß sie recht hatten. In den letzten drei Jahren war ich mehr mit meiner Schwester zusammen als mit irgendeinem anderen Menschen.«

»Und die Frauen in deinem Leben?«

Harry schaute am Tresen entlang. Ein paar der Gäste begannen unruhig zu werden.

»Das ist eine andere und mindestens genauso lange Geschichte. Und alt ist sie auch. Seit dem Unglück gab es nichts, über das es wert wäre zu sprechen. Ich bin wohl so ein lonely wolf geworden, der sich mit seinen eigenen Sachen beschäftigt. Wer weiß, vielleicht hatte ich ja ganz einfach mehr Charme, wenn ich betrunken war?« Harry schüttete sich noch etwas Milch in den Kaffee und schien sich über diesen Gedanken zu amüsieren.

»Warum haben sie dich hierhergeschickt?«

Harry zuckte mit den Schultern.

»Das ist wohl nicht so wahnsinnig wichtig.« Er nickte zu der anderen Seite der Bar hinüber. »Jedenfalls nicht so wichtig wie für die Jungs da drüben der nächste Drink.«

Birgitta verschwand, und Harry rührte in seinem Kaffee. Dabei erregte das Geräusch des Fernsehapparates seine Aufmerksamkeit, der über den Flaschenregalen hinter der Bar hing. Es lief die Nachrichtensendung, und nach einer Weile begriff Harry, daß von einer Gruppe Aborigines die Rede war, die eine bestimmte Region des Landes beanspruchte.

»… in bezug auf die neue Native Title-Gesetzgebung«, sagte der Nachrichtensprecher.

»Damit die Gerechtigkeit siegt …«, hörte er eine Stimme hinter sich.

Harry drehte sich um. Zuerst erkannte er die langbeinige, braungepuderte Frau mit den groben Gesichtszügen und der hellen Perücke, die sich hinter ihm erhob, nicht. Doch dann fiel sein Blick auf die dicke Nase und den Zwischenraum zwischen den Schneidezähnen.

»The Clown«, sagte er. »Otto …«

»Otto Rechtnagel, in voller Größe, höchstpersönlich, handsome. Das ist der Nachteil an diesen hohen Absätzen. Ich habe es ja eigentlich lieber, wenn meine Männer größer sind als ich. May I?« Er setzte sich neben Harry auf den Barhocker.

»Was trinkst du?« fragte Harry und versuchte die Aufmerksamkeit einer geschäftigen Birgitta zu erlangen.

»Immer mit der Ruhe, sie weiß es«, sagte Otto.

Harry bot ihm eine Zigarette an, die er ohne ein Wort des Dankes nahm und in ein rosa Mundstück steckte. Dann gab er ihm Feuer, und Otto schaute ihn an, während er mit hohlen Wangen und vielsagendem Blick den Rauch einsog. Das kurze Kleid klammerte sich an die schlanken Schenkel und die glitzernden Strümpfe. Harry mußte sich selbst eingestehen, daß die Verkleidung ein kleines Meisterwerk darstellte. Otto sah in seinem Kostüm weiblicher aus als die meisten Frauen, die er kannte. Harry wich seinem Blick aus und zeigte auf den Fernseher.

»Was meinst du mit ›damit die Gerechtigkeit siegt‹?«

»Hast du nichts von Terra Nullius gehört? Eddy Mabo?« Harry schüttelte zweimal den Kopf. Otto formte seine Lippen wie zu einer Oralsexnummer, und heraus kamen zwei dicke Rauchringe, die langsam durch die Luft schwebten.

»Terra Nullius ist ein spaßiger kleiner Begriff, verstehst du. Ein paar Engländer haben sich das einfallen lassen, als sie hierherkamen und sahen, daß es in Australien kaum bearbeitetes Land gab. Die Aborigines waren nämlich ein halbnomadisches Volk, das sich von Jagd und Fischfang und den natürlich wachsenden Pflanzen ernährte. Und nur weil sie nicht den lieben langen Tag mit gekrümmten Rücken über den Kartoffeläckern standen, glaubten die Engländer, es müsse sich um weniger entwickelte Individuen handeln. Sie glaubten, die Landwirtschaft sei eine obligatorische Entwicklungsstufe jeder Zivilisation und vergaßen dabei die Tatsache, daß die ersten Engländer, die hierherkamen, bei dem Versuch, das karge Land zu bestellen, fast verhungert wären. Die Aborigines aber kannten die Natur in- und auswendig, je nach Jahreszeit zogen sie dorthin, wo es etwas zu essen gab, und lebten so in anscheinendem Überfluß. Captain Cook bezeichnete sie als die glücklichsten Menschen, denen er jemals begegnet war. Es gab für sie ganz einfach keine Notwendigkeit, das Land zu bestellen. Doch weil sie nicht seßhaft waren, schlossen die Engländer daraus, daß das Land niemandem gehörte. Deshalb Terra Nullius. Und nach dem Terra Nullius-Prinzip konnten die Engländer einfach Eigentumszertifikate für Siedler ausstellen, ohne sich dabei Gedanken zu machen, was die Aborigines dazu meinten. Sie hatten ihr Land ja nicht in Besitz genommen.«

Birgitta stellte ein großes Glas Marguerita vor Otto auf den Tresen.

»Vor ein paar Jahren tauchte ein Mann von den Torres Straight- Inseln auf, Eddy Mabo, der die Obrigkeit mit der Ansicht konfrontierte, das Terra Nullius-Prinzip sei falsch, und statt dessen behauptete, daß das Land damals unrechtmäßig den Aborigines gestohlen worden wäre. 1992 gab der Oberste Gerichtshof Eddy Mabo Recht und entschied, daß Australien den Aborigines gehört habe. Das Gerichtsurteil besagte, daß die Aborigines Anspruch auf die Bereiche des Landes hätten, von denen sie gelebt hätten, bevor die Weißen kamen, vorausgesetzt, sie hielten sich heute noch dort auf. Das führte natürlich zu einem gewaltigen Tohuwabohu mit einer Unzahl weißer Siedler, die vor Angst aufschrien, jetzt ihr Land zu verlieren.«

»Und was geschieht jetzt?«

Otto nahm einen tiefen Schluck aus seinem Cocktailglas mit Salzrand, machte ein Gesicht, als hätte man ihm Essig serviert, und trocknete sich mit seiner Serviette mit säuerlicher Miene vorsichtig den Mund.

»Nun, das Gerichtsurteil gibt es ja. Und die Native Title- Gesetzgebung ist klar. Aber man praktiziert es auf eine Weise, die nicht immer allzu konsequent ist. Es ist nicht so, daß ein armer Bauer jetzt von einem Tag auf den anderen damit rechnen muß, sein Land zu verlieren. Mit der Zeit hat sich die schlimmste Panik gelegt.«

Ich sitze hier in einer Bar, dachte Harry, und höre einem Transvestiten zu, der mir eine Vorlesung über australische Politik hält. Plötzlich fühlte er sich in etwa ebenso zu Hause wie Harrison Ford in der Barszene in Star Wars.

Die Nachrichten wurden von einer Werbung unterbrochen, in der lächelnde australische Männer mit Flanellhemden und Lederhüten auftraten. Sie warben für ein Bier, dessen hervorragende Eigenschaft anscheinend darin lag, daß es »proudly Australian« war.

»Na denn, trinken wir auf Terra Nullius«, sagte Harry.

»Prost, handsome. Oh, das hätte ich fast vergessen. Es gibt nächste Woche eine neue Vorstellung im St. George Theater am Bondi Beach. Ich verlange ganz einfach, daß ihr, du und Andrew, kommt. Du kannst gerne noch einen anderen Freund mitbringen. Und hebt euch bitte euren Applaus für meine Nummern auf.«

Harry machte eine tiefe Verbeugung und bedankte sich für die drei Eintrittskarten, die ihm Otto mit abgespreiztem kleinen Finger hinhielt.

Als Harry auf dem Weg vom Albury nach King's Cross am Green Park vorbeiging, suchte er unwillkürlich nach dem grauen Aborigine, aber an diesem Abend saßen nur ein paar betrunkene Weiße in dem fahlen Licht der Laterne auf der Parkbank. Die Wolken, die noch am Morgen den Himmel verdeckt hatten, waren verschwunden, jetzt war es sternenklar. Unterwegs passierte er zwei Menschen, die ganz offensichtlich gerade miteinander stritten. Sie standen jeder auf seiner Seite der Straße und brüllten sich an, während Harry zwischen ihnen hindurchgehen mußte. »Du hast nichts davon gesagt, daß du die ganze Nacht über wegbleiben würdest!« schrie der eine mit dünner, tränenerstickter Stimme.