»Das ist der Stille Ozean, Harry. Nächster Stop Neuseeland, circa zweitausend nasse Kilometer entfernt.«
Harry schaute sich um. Im Westen erblickte er das Zentrum mit der Hafenbrücke, im Norden den Strand und die Segelboote der Watson Bay und ganz hinten am Ende der Bucht die kleine, grüne Siedlung Manly. Richtung Osten krümmte sich der Horizont in einem Spektrum der unterschiedlichsten Blautöne. Die Klippen vor ihnen fielen senkrecht ab, und weit dort unten beendeten die Wellen ihre lange Reise in einem gewaltigen Crescendo zwischen den Steinen.
»Okay, Harry, jetzt stehst du auf historischem Boden«, sagte Andrew. »1788 schickten die Engländer das erste Boot mit Strafgefangenen nach Australien. Sie wollten sich in der Botany Bay, etwas weiter südlich von hier, ansiedeln, doch glücklich angekommen, meinte der gute Kapitän Philipp, daß die Landschaft dort zu karg sei, und er schickte ein kleines Boot nach Norden an der Küste entlang, um nach etwas Besserem Ausschau zu halten. Das Boot umrundete die Landzunge, auf der wir jetzt stehen, und fand den besten Hafen der Welt. Etwas später kam Kapitän Philipp mit dem Rest der Flotte; elf Schiffe, 750 Strafgefangene, Frauen und Männer, 400 Seeleute, vier Marinekompanien und Verpflegung für zwei Jahre. Aber dieses Land ist schwieriger als es aussieht, es gelang den Engländern nicht, die Natur so zu nutzen, wie es die Aborigines im Laufe der Jahre gelernt hatten. Als zweieinhalb Jahre später das nächste Versorgungsschiff anlegte, waren die Engländer drauf und dran, zu verhungern.«
»Es sieht so aus, als wenn es mit der Zeit besser geworden wäre.« Harry nickte in Richtung der grünen Hügel von Sydney und spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern herabrann. Die Wärme ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
»Für die Engländer trifft das wohl zu«, sagte Andrew und spuckte über die Kante der Steilküste. Sie folgten der Spucke mit den Augen, bis sie sich im Wind auflöste.
»Sie kann froh sein, daß es ihr erspart blieb, den Sturz mitzuerleben«, sagte er. »Sie muß beim Herabstürzen an die Klippen geschlagen sein, es waren Fleischfetzen aus ihrem Körper gerissen, als man sie fand.«
»Wie lange war sie schon tot?«
Andrew schnitt eine Grimasse. »Der Polizeiarzt sagt 48 Stunden. Aber der …«
Er legte die Spitze seines Daumens an den Mund. Harry nickte. Der Polizeiarzt schien eine durstige Seele zu sein.
»Und du wirst skeptisch, wenn die Zahlen zu rund sind?«
»Sie wurde Freitagmorgen gefunden, laß uns also davon ausgehen, daß sie im Laufe der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag starb.«
»Gab es Spuren?«
»Wie du siehst, können die Autos direkt hier unten parken, die Gegend ist nachts nicht beleuchtet und ziemlich verlassen. Es gibt keine Zeugenaussagen, und ehrlich gesagt erwarten wir auch keine.«
»Also, was machen wir jetzt?«
»Jetzt tun wir, was mir der Chef befohlen hat. Wir gehen in ein Restaurant und hauen etwas vom staatlichen Repräsentationsbudget auf den Kopf. Du bist trotz allem der höchste Repräsentant der norwegischen Polizei in einem Umkreis von über zweitausend Kilometern. Mindestens.«
Andrew und Harry saßen an einem feierlich weiß gedeckten Tisch. Das Fischrestaurant Doyle's lag ganz unten an der Watson Bay. Nur ein schmaler Sandstrand trennte es vom Meer.
»Fast schon kitschig, nicht wahr«, meinte Andrew.
»Die ideale Postkarte.« Ein kleiner Junge und ein Mädchen bauten am Strand direkt vor ihnen Sandburgen. Dahinter lag die azurblaue Meeresbucht, dann fruchtbare grüne Hügel und etwas weiter entfernt die stolze Skyline von Sydney.
Harry bestellte Kammuscheln und tasmanische Forelle, Andrew eine australische Flunder, von der Harry vermutlich noch nie zuvor gehört hatte. Andrew bat um eine Flasche Chardonnay Rosemount, »völlig unpassend zu diesem Essen, aber der ist weiß und gut und liegt genau im Rahmen des Budgets.« Er sah reichlich überrascht aus, als Harry sagte, er trinke keinen Alkohol.
»Quäker?«
»Nein, damit hat das nichts zu tun«, erwiderte er. Doyle's sei ein alter Familienbetrieb und gelte als eines der besten Fischrestaurants in Sydney, erklärte Andrew. Es war Hochsaison, und alle Tische waren besetzt. Harry wunderte sich deshalb nicht, daß der Kellner sie warten ließ.
»Die Kellner sind hier wie der Planet Pluto«, brummte Andrew wütend. »Kreisen an der Peripherie herum und tauchen nur jedes zwanzigste Jahr im Zentrum auf, und selbst dann sind sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen.«
Harry konnte sich beim besten Willen nicht darüber aufregen und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.
»Aber die haben gutes Essen«, sagte er. »Das ist also der Grund für deinen Anzug.«
»Sowohl als auch. Du siehst ja, daß es hier nicht sonderlich formell ist. Aber ich habe gute Erfahrungen gemacht, an solchen Orten nicht in Jeans und T-Shirt zu erscheinen. Ich muß mein Äußeres ein bißchen kompensieren.«
»Wie meinst du das?«
Andrew blickte Harry in die Augen.
»Aborigines haben in diesem Land keinen besonders hohen Status, das hast du ja vielleicht schon gemerkt. Schon ganz früh schrieben die Engländer in den Briefen nach Hause, daß die Eingeborenen eine Schwäche für Alkohol und Diebstahl hätten«, erzählte er. Harry hörte ihm interessiert zu.
»Sie meinten, das sei in ihren Genen so angelegt. Das einzige, zu dem sie taugen, ist eine Art Höllenmusik zu machen, indem sie in lange hohle Holzstücke blasen, die sie Didgeridoo nennen, schrieb einer von ihnen. Nun, Australien ist ein Land, das sich damit brüstet, viele Kulturen erfolgreich zu einer funktionierenden Gemeinschaft vereint zu haben. Aber für wen? Das Problem oder der Vorteil, je nachdem wie du das siehst, ist die Tatsache, daß man die Eingeborenen überhaupt nicht mehr wahrnimmt.
Die Aborigines nehmen an dem gesellschaftlichen Leben in Australien so gut wie nicht teil, abgesehen von politischen Debatten, in denen es um besondere Interessen oder die Kultur der Aborigines geht. Die Australier kaufen sich frei, indem sie Aboriginekunst in ihren Häusern aufhängen. Auf der anderen Seite sind die Aborigines verdammt gut in den Schlangen beim Sozialamt, in den Selbstmordstatistiken und in den Gefängnissen vertreten. Wenn du Aborigine bist, sind die Chancen, im Gefängnis zu landen, sechsundzwanzigmal größer als bei einem Australier. Denk darüber nach, Harry Hole.«
Andrew trank den Rest des Weins, während Harry nachdachte. Auch darüber, daß er gerade wahrscheinlich das beste Fischgericht seines zweiunddreißigjährigen Lebens gegessen hatte.
»Und trotzdem ist Australien nicht rassistischer als andere Länder, wir sind ja eine multikulturelle Nation mit Menschen aus der ganzen Welt. Das bedeutet nur, daß es sich lohnt, einen Anzug anzuziehen, wenn man in ein Restaurant geht.«
Harry nickte wieder. Es gab dazu nichts mehr zu sagen.
»Inger Holter arbeitete in einer Bar?«
»Ja, natürlich. The Albury in der Oxford Street in Paddington. Ich dachte, wir könnten da heute abend hingehen.«
»Warum nicht jetzt gleich?« Harry bemerkte, daß ihn die Langsamkeit immer unruhiger werden ließ.
»Weil wir zuerst einmal dem Vermieter einen Besuch abstatten sollten.«
Pluto tauchte ohne Vorwarnung am Sternenhimmel auf.
Glebe Point Road erwies sich als eine angenehme, nicht allzu stark befahrene Straße, die zu beiden Seiten von ethnisch geprägten Restaurants aller Herren Länder gesäumt war.
»Das war früher Sydneys Bohemeviertel«, erzählte Andrew. »Ich habe hier in der Gegend in den siebziger Jahren gewohnt. Während meines Studiums. Es gibt noch immer die typischen vegetarischen Restaurants für Umweltschützer und Alternative, lesbische Buchläden und all das Zeugs. Aber die alten Hippies und Freaks sind verschwunden. Seit Glebe in ist, sind die Mieten in die Höhe geschossen, und ich könnte es mir jetzt auch mit meinem Polizeilohn kaum mehr leisten, hier zu wohnen.«