»Ich habe nichts gesagt.«
»Dann gibt es auch noch eine Chance für dich, deine rothaarige Freundin wiederzusehen.«
»Wie hast du es gemacht? Wie hast du sie überwältigt?«
»Ich wußte, wann ihre Schicht zu Ende sein würde und habe einfach draußen vor dem Albury im Auto gewartet. Und dann bin ich ihr nachgefahren. Als sie in den Park ging, dachte ich, daß ihr jemand sagen sollte, daß sie das abends um die Uhrzeit nicht mehr machen sollte. Also stieg ich aus dem Auto und ging ihr nach. Ich ließ sie ein bißchen an einem Lappen riechen, den ich mitgenommen hatte, und danach mußte ich ihr in den Wagen helfen.«
Harry begriff, daß er das Aufnahmegerät in ihrer Tasche nicht bemerkt haben konnte.
»Was willst du, was soll ich tun?«
»Du hörst dich nervös an, Harry. Beruhig dich. Ich habe nicht vor, um viel zu bitten. Dein Job ist es, einen Mörder zu fangen, und genau darum bitte ich dich. Du sollst einfach deine Arbeit machen. Birgitta hat mir nämlich erzählt, daß euer Hauptverdächtiger ein Dealer namens Evans White ist. Unschuldig oder nicht, jedes Jahr tötet er, oder solche wie er, mehr Menschen als ich in meinem ganzen Leben. Und das soll wirklich etwas heißen. Hähä. Ich glaube nicht, daß ich dir alles bis ins kleinste Detail erklären muß. Alles, was ich will, ist, daß dieser Evans White für seine Verbrechen verurteilt wird. Und für ein paar von mir. Vielleicht reichen die Beweise ja, wenn man in Whites Wohnung Hautreste und Blutspuren von Inger Holter findet? Du kennst ja den Gerichtsmediziner, vielleicht kann der dir ja das notwendige Beweismaterial besorgen, das du dann am Tatort plazieren kannst? Hähä. Ich mache nur Spaß, Harry. Aber vielleicht kann ich es dir besorgen? Vielleicht habe ich ja irgendwo Blut und Hautreste der verschiedenen Opfer und das eine oder andere Haar fein säuberlich in Plastiktütchen verstaut? So für alle Fälle, man weiß ja nie, wann es wichtig sein kann, ein bißchen Verwirrung zu stiften. Hähä.«
Harry umklammerte den nassen Telefonhörer. Er versuchte nachzudenken. Der Mann wußte ganz offensichtlich nichts davon, daß die Polizei über Birgittas Entführung informiert war und ihre Meinung über den möglichen Täter inzwischen revidiert hatte. Das konnte nur bedeuten, daß Birgitta ihm nicht erzählt hatte, daß sie unter der Aufsicht der Polizei Evans White hätte treffen sollen. Er hatte sie, ohne es zu wissen, einfach vor der Nase eines guten Dutzend Polizisten weggeschnappt!
Die Stimme riß ihn wieder aus seinen Gedanken: »Eine verlockende Möglichkeit, nicht wahr, Harry? Daß dir ein Mörder hilft, einen anderen Feind der Gesellschaft einzubuchten. Nun gut, laß uns in Kontakt bleiben. Du hast … laß uns sagen, 48 Stunden, um ihn zu verhaften. Ich erwarte am Dienstagabend gute Neuigkeiten in den Nachrichtensendungen. Bis dahin verspreche ich dir, die Rothaarige mit all dem Respekt zu behandeln, den man von einem Gentleman erwarten darf. Wenn ich nichts höre, fürchte ich, wird sie den Mittwoch nicht erleben. Aber ich kann ihr einen phantastischen Dienstagabend versprechen.«
Harry legte auf. Der Ventilator rülpste mit häßlichem Scheppern. Er schaute auf seine Hände. Sie zitterten ein wenig.
»Was meinen Sie, Sir?«
Der breite Rücken, der die ganze Zeit regungslos vor der Tafel gestanden hatte, kam in Bewegung.
»Ich denke, wir sollten uns diesen Teufel schnappen«, sagte McCormack. »Bevor die anderen wiederkommen, Harry – wie bist du auf ihn gekommen?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, Sir, dann war das nur eine weitere Theorie, die plötzlich in meinem Kopf auftauchte, ohne daß ich zu Beginn wirklich an sie geglaubt habe. Nach der Beerdigung wurde ich von Jim Connolly, einem alten Boxerkollegen von Andrew, mitgenommen. Er war mit seiner Frau auf der Beerdigung, die, wie er sagte, Zirkusartistin war, als er sie kennenlernte. Er erzählte, daß er ihr ein Jahr lang jeden Tag den Hof gemacht habe, bevor sie ihn an sich herangelassen habe. Zuerst habe ich mir dabei nichts gedacht, bis ich an die Möglichkeit dachte, daß er das vielleicht wörtlich gemeint haben konnte – daß die zwei sich mit anderen Worten ein ganzes Jahr lang jeden Tag gesehen haben. Und plötzlich fiel mir wieder ein, daß Jim Chivers in einem großen Zelt boxte, als Andrew und ich in Lithgow waren, und daß da auch ein Tivoli gewesen war. Dann brachte ich Yong dazu, den Agenten von Jim Chivers anzurufen, um das zu überprüfen. Und es stimmte: Jim Chivers' Truppe ist so gut wie immer mit einem herumreisenden Zirkus oder Tivoli auf Tournee. Yong bekam heute morgen die alten Tourneelisten zugefaxt, und da zeigte sich, daß bei dem Tivoli, der Jim Chivers in den letzten Jahren begleitete, auch eine Zirkustruppe war. Otto Rechtnagels Truppe.«
»Gut. Das heißt, daß auch Jim Chivers' Boxer an den entsprechenden Terminen an den Orten der Verbrechen waren. Aber bei Jim Chivers gibt es viele, die Andrew kannten.«
»Andrew hat mir nur einen von ihnen vorgestellt, und ich hätte begreifen müssen, daß wir nicht wegen dieser unwichtigen Vergewaltigungssache nach Lithgow gefahren sind. Andrew betrachtete ihn wie einen Sohn. Ihre Entwicklung wies so viele Parallelen auf, und das Band, das sie zusammenhielt, war so eng, daß dieser Mensch vielleicht der einzige auf dieser Erde war, mit dem sich das Findelkind Andrew Kensington irgendwie blutsverwandt fühlte. Auch wenn Andrew niemals zugegeben hätte, eine engere Beziehung zu seinem Volk zu haben, glaube ich dennoch, daß er Toowoomba auch deshalb mehr als jeden anderen liebte, weil er einer aus seinem Volk war. Deshalb konnte ihn Andrew nicht selber stellen. Alle seine erlernten und vielleicht angeborenen Moralvorstellungen kollidierten mit der Loyalität für sein Volk und der Liebe zu Toowoomba. Ich weiß nicht, ob sich irgend jemand wirklich vorstellen kann, was für ein grausamer Konflikt das für ihn gewesen sein muß. Er mußte eine Möglichkeit finden, ihn aufzuhalten, ohne seinen eigenen Sohn zu ›ermorden‹. Deshalb brauchte er mich, einen Außenstehenden, den er auf das Ziel zusteuern konnte.«
»Toowoomba?«
»Toowoomba. Andrew hatte herausgefunden, daß er hinter all diesen Morden steckte. Vielleicht hatte der verzweifelte, verstoßene Geliebte Otto Rechtnagel es Andrew erzählt, nachdem Toowoomba ihn verlassen hatte. Vielleicht gelang es Andrew, Otto davon zu überzeugen, die Sache zu lösen, ohne daß sie beide involviert würden. Aber ich glaube, Otto war dabei zu zerbrechen. Er hatte mit gutem Grund Angst um sein Leben, nachdem ihm klargeworden war, daß Toowoomba alles andere als froh darüber war, daß es da einen Ex- Lover gab, der frei herumrannte und ihn verraten konnte. Toowoomba wußte, daß Otto mit mir in Kontakt getreten und sein Spiel beinahe verspielt war. Deshalb heckte er den Plan aus, Otto während der Vorstellung zu ermorden. Da sie früher mit einer beinahe identischen Show herumgereist waren, wußte Toowoomba genau, wann er zuschlagen mußte.«
»Warum hat er das nicht in Ottos Wohnung gemacht? Er hatte doch einen Schlüssel?«
»Das habe ich mich auch gefragt.« Harry zögerte.
McCormack wedelte mit der Hand. »Harry, du hast mir schon so viel aufgetischt, daß es jetzt auch auf ein paar Theorien mehr oder weniger nicht mehr ankommt.«
»Die Sache mit dem Gockel.«
»Gockel?«
»Toowoomba ist nicht einfach nur ein Psychopath. Er ist auch ein Gockel. Und die Eitelkeit eines Gockels darf man nicht unterschätzen. Während seine sexuell motivierten Morde einem Muster folgen, das mit zwanghaften Handlungen erklärt werden kann, ist der ›Clownsmord‹ etwas ganz anderes, nämlich ein rationeller, notwendiger Mord. Bei diesem Mord war er plötzlich frei, ungehemmt von den Psychosen, die den Ablauf der anderen Morde bestimmten. Es war die Chance, etwas wirklich Spektakuläres zu machen, seinem Lebenswerk die Krone aufzusetzen. Und man muß ja sagen, daß ihm das gelungen ist – an den Clownsmord wird man sich noch erinnern, wenn die Mädchen, die er getötet hat, längst vergessen sind.«