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»So kann man das nennen.«

»Wie konntest du sicher sein, daß er das nehmen würde? Er wußte doch, daß du der Mörder bist.«

»Er wußte nicht, daß ich wußte, daß er es wußte. Wenn du mich verstehst, Harry? Er wußte nicht, daß Otto sich verraten hatte. Außerdem ist ein Junkie auf beginnendem Entzug bereit, gewisse Risiken einzugehen. Zum Beispiel, jemandem zu vertrauen, der ihn, wie er glaubt, wie einen Vater verehrt. Aber über all das brauchte ich jetzt ja nicht mehr nachzudenken. Er war aus dem Krankenhaus abgehauen und stand unten vor der Gartentür.«

»Du hast dich also entschlossen, ihn hereinzulassen.«

»Weiß du eigentlich, wie schnell ein menschliches Gehirn arbeiten kann, Harry? Weißt du, daß die langen, verdrehten Geschichten in unseren Träumen, in denen wir glauben, die ganze Nacht gesteckt zu haben, sich in Wirklichkeit in wenigen Sekunden hektischster Gehirnaktivität abgespielt haben? Ungefähr so ist mir dieser Plan in den Kopf gekommen. Plötzlich begriff ich, daß es möglich war, alles so aussehen zu lassen, als stehe Andrew Kensington hinter allem. Ich schwöre, daß ich bis zu diesem Moment noch nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht hatte. Ich drückte also den Türöffner und wartete hinter der Tür mit meinem Wunderlappen bewaffnet darauf, daß er heraufkam …«

» – Acethyläther.«

»… und anschließend habe ich Andrew an einen Stuhl gefesselt, das Spritzbesteck herausgeholt und ihm den Rest Heroin gespritzt, den er noch bei sich hatte, so daß ich sicher sein konnte, daß er sich ruhig verhielt, bis ich vom Theater zurückkam. Auf dem Rückweg habe ich dann noch mehr Junk gekauft, und Andrew und ich hatten einen wirklich guten Abend zusammen. Ja, wir haben richtig die Sau rausgelassen, sind völlig abgehoben, und als ich schließlich ging, hing Andrew an der Wohnzimmerlampe.«

Wieder dieses leise Lachen. Harry versuchte krampfhaft, tief und ruhig zu atmen. Er war so ängstlich wie noch nie zuvor in seinem Leben.

»Wie meinst du das? Du hast gesagt, daß du sie hin und wieder bestrafen mußtest?«

»Was?«

»Du hast eben gesagt, daß du sie bestrafen mußt.«

»Ach, das. Ja, wie du weißt, sind Psychopathen ja oft paranoid, wenn sie nicht auch noch unter anderen zwanghaften Wahnideen leiden. Meine Lebensaufgabe ist es, mein Volk zu rächen.«

»Indem du weiße Frauen vergewaltigst?«

»Kinderlose weiße Frauen.«

»Kinderlose?« fragte Harry verblüfft. Das war eine Gemeinsamkeit, auf die sie im Laufe ihrer Ermittlungen nicht gekommen waren, aber wie auch? Es war ja nicht ungewöhnlich, daß so junge Frauen keine Kinder hatten.

»Na klar. Hast du das wirklich nicht begriffen? Terra nullius, Harry! Als ihr hierherkamt, habt ihr uns als besitzlos definiert, weil wir keine Samen in die Erde gelegt haben. Ihr habt uns unser Land genommen und es vor unseren Augen vergewaltigt und getötet.«

Toowoomba brauchte gar nicht lauter zu sprechen. Seine Worte waren laut genug. »Nun, eure kinderlosen Frauen sind meine Terra nullius, Harry. Niemand hat sie befruchtet, also besitzt sie niemand. Ich folge nur der Logik des weißen Mannes und mache es genauso wie er.«

»Aber du sprichst doch selbst von zwanghaften Wahnvorstellungen, Toowoomba? Du begreifst doch, wie krank du bist.«

»Natürlich ist das krank. Aber es ist doch ganz normal, krank zu sein, Harry. Es wird doch erst gefährlich, wenn die Krankheit fehlt, denn dann hört der Körper auf zu kämpfen und ist kurz davor auseinanderzubrechen. Aber Zwangsvorstellungen, Harry, die darfst du nicht unterschätzen. Die sind in jeder Kultur wertvoll. Nimm die deine, zum Beispiel. Im Christentum wird doch ganz offen davon gesprochen, wie schwierig es ist zu glauben, daß Zweifel manchmal den klügsten und frommsten Priester heimsuchen können. Aber ist die Erkenntnis des Zweifels nicht das gleiche wie das Eingeständnis, daß der Glaube, nach dem man leben will, eine Zwangsvorstellung ist, die trügerische Vorstellung eines Zusammenhangs, gegen den man mit all seiner Vernunft ankämpft? Man sollte seine Zwangsvorstellung nicht so einfach aufgeben, Harry. Am anderen Ende des Regenbogens wartet vielleicht eine Belohnung.«

Harry ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Er versuchte, nicht an Birgitta zu denken, daran, daß sie keine Kinder hatte.

»Wie konntest du wissen, daß sie keine Kinder hatten?« hörte er sich selbst mit heiserer Stimme fragen.

»Ich habe gefragt.«

»Was …«

»Einige von ihnen haben behauptet, sie hätten Kinder, weil sie glaubten, ich würde sie dann verschonen. Sie hatten dann dreißig Sekunden, das zu beweisen. Eine Mutter, die nicht ein Bild von sich und ihrem Kind bei sich hat, ist keine Mutter, wenn du mich fragst.«

Harry mußte schlucken.

»Und warum mußten sie blond sein?«

»Keine absolute Voraussetzung. Das minimiert nur die Möglichkeit, daß sie Blut von meinem Volk in den Adern haben.«

Harry zwang sich, nicht an Birgittas milchigweiße Haut zu denken.

Toowoomba lachte leise.

»Ich verstehe ja, daß du einiges wissen willst, Harry, aber Telefonate mit dem Handy sind teuer, und Idealisten wie ich sind nicht gerade reich. Du weißt, was du zu tun hast – und was nicht.«

Damit war das Gespräch beendet. Die schnell hereinbrechende Dämmerung hatte den Raum mittlerweile in graues Dunkel gehüllt. Unter der Tür schoben sich zwei tastende Fühler einer Kakerlake hindurch, um zu testen, ob die Luft rein war. Harry deckte sich zu und krümmte sich zusammen. Draußen, auf dem Dach vor dem Fenster, begann ein einsamer Kookaburra sein abendliches Konzert, und in King's Cross ging man in die Startlöcher für eine neue, lange Nacht.

Harry träumte von Kristin. Vielleicht tat er das innerhalb von ein paar hektischen Sekunden, aber es handelte von einem halben Leben und konnte deshalb vielleicht doch länger gedauert haben. Sie trug seinen grünen Morgenmantel, streichelte ihm über die Haare und bat ihn, sie zu dem Ort, zu dem sie wollte, zu begleiten. Er fragte sie, wohin, doch da stand sie bereits in der offenen Balkontür, umgeben von flatternden Gardinen, und die im Innenhof spielenden Kinder machten so viel Lärm, daß er nicht hörte, was sie antwortete. Manchmal blendete ihn die Sonne, und er konnte sie nicht mehr sehen.

Er stand auf und ging auf sie zu, um zu hören, was sie gesagt hatte, aber sie lachte nur, trat auf den Balkon hinaus, kletterte auf das Geländer und entschwebte wie ein grüner Ballon. Sie erhob sich langsam über die Hausdächer und rief »Alle kommen! Alle kommen!« Später war er herumgerannt und hatte alle, die er kannte, gefragt, wo das Fest denn sein sollte, aber entweder wußten sie es nicht, oder sie waren bereits gegangen. Dann war er zum Frognerbad gegangen, aber er hatte nicht genug Geld dabei und mußte über den Zaun klettern.

Auf der anderen Seite des Zaunes hatte er bemerkt, daß er sich verletzt hatte. Sein Blut zeichnete eine rote Spur in das Gras und über die Fliesen und Treppen bis hinauf zum Zehner. Dort oben war niemand, und so legte er sich auf den Rücken, schaute in den Himmel und hörte den kleinen nassen Platschern zu, die seine Blutstropfen weit dort unten auf dem Beckenrand erzeugten. Hoch dort oben, nahe an der Sonne, glaubte er, eine schwebende grünliche Gestalt zu sehen. Er hielt sich die Hände wie ein Fernrohr vor die Augen und sah sie plötzlich ganz deutlich. Sie war so schön. Fast durchsichtig.

Einmal wachte er von einem Knall auf, der ein Pistolenschuß gewesen sein konnte, und lag da und lauschte dem Regen und dem Rauschen von King's Cross. Nach einer Weile schlief er wieder ein. Dann träumte Harry wieder von Kristin, die ganze Nacht. Nur daß sie ab und zu rote Haare hatte und Schwedisch sprach.

20

Ein PC, die Lady Bay und wie ein Handy eigentlich funktioniert

Es war neun Uhr.

Lebie lehnte seine Stirn an die Tür und schloß die Augen. Zwei Polizisten standen mit schußsicheren Westen neben ihm und verfolgten das Geschehen gebannt. Ihre Waffen waren bereit. Hinter ihnen standen Wadkins, Yong und Harry auf der Treppe.