Lebie nickte zu Andrew.
»Andrew hat die Stadt auf dem Foto erkannt. Wir haben der lokalen Polizeistation das Foto gefaxt, und die haben uns den Namen gegeben. Sie haben uns informiert, daß er dort oben eine gewisse Rolle im Milieu spielt. Im Klartext heißt das, daß er Marihuana raucht.«
»Das muß eine verdammt kleine Stadt sein«, sagte Harry.
»Nimbin, etwas über tausend Einwohner«, ergänzte Andrew. »Der Ort lebte größtenteils von der dortigen Molkerei, bis Australiens nationale Studentenorganisation auf die Idee kam, dort 1973 das sogenannte Aquarius-Festival auszurichten.«
Ein gedämpftes Lachen war am Tisch zu hören.
»Bei dem Festival ging es eigentlich um Idealismus, um alternativen Lebensstil, zurück zur Natur und das alles. Die Zeitungen aber konzentrierten sich auf die Jugend, die Drogen und den hemmungslosen Sex. Das Fest dauerte mehr als zehn Tage, und für manch einen ist es wohl noch immer nicht zu Ende. Rund um Nimbin sind die Anbaubedingungen gut, und zwar für alles mögliche. Laß es mich so ausdrücken, ich zweifle daran, daß die Molkereiprodukte heute noch die größte Einnahmequelle sind. Auf der Hauptstraße, nur fünfzig Meter von der lokalen Polizeistation entfernt, gibt es, fürchte ich, Australiens offensten Markt für Marihuana und LSD.«
»Jedenfalls«, fiel ihm Lebie ins Wort, »hat ihn die dortige Polizei vor kurzem in Nimbin gesehen.«
»Der Gouverneur von New South Wales hat dort oben aber inzwischen eine große Kampagne gestartet«, ergänzte Wadkins, »die Regierung in Canberra hat wohl Druck auf ihn ausgeübt, etwas gegen den zunehmenden Drogenhandel zu unternehmen.«
»Das stimmt«, sagte Lebie, »die Polizei setzt Kleinflugzeuge und Helikopter ein, um Bilder von den Flächen zu machen, auf denen sie Hanf anbauen.«
»Okay«, sagte Wadkins. »Wir holen uns diesen Typ. Kensington, Sie kennen sich dort oben offensichtlich aus, und Sie, Holy, haben sicher nichts dagegen, etwas mehr von Australien zu sehen. Ich werde McCormack bitten, mit der Polizeistelle zu telefonieren, damit man dort darüber informiert ist, daß ihr kommt. Yong, Sie bearbeiten weiter Ihren PC und schauen, was Sie damit erreichen können. Let's do some good!«
»Let's have some lunch!« sagte Andrew.
Sie mischten sich unter die Touristen und fuhren mit der eingleisigen Eisenbahn nach Darling Harbour, stiegen an der Harbourside aus und setzen sich an einen Tisch mit Blick über den Hafen.
Ein paar lange Beine stolzierten auf Stilettabsätzen vorbei. Andrew verdrehte die Augen und pfiff ihnen politisch höchst unkorrekt nach. Ein paar Köpfe drehten sich im Restaurant um und schauten irritiert zu ihnen herüber. Harry schüttelte den Kopf.
»Wie geht es deinem Freund Otto?«
»Tja, er ist am Boden zerstört. Er ist wegen einer Frau verlassen worden. Wenn Liebhaber erst anfangen, sich in beiden Richtungen umzuschauen, landen sie immer bei einer Frau, hat er geschimpft. Aber er wird es wohl auch dieses Mal überleben.«
Zu seiner Überraschung bemerkte Harry ein paar Tropfen Regen, und ganz richtig: Eine dicke Wolkendecke hatte sich fast unbemerkt von Nordwesten her über ihre Köpfe geschoben.
»Wie konntest du dieses Nimbin bloß anhand des Bildes einer einzigen Fassade erkennen?«
»Nimbin? Habe ich vergessen, dir zu erzählen, daß ich ein alter Hippie bin?« grinste Andrew. »Es wird behauptet, daß diejenigen, die sich an das Aquarius-Festival erinnern, nicht daran teilgenommen haben. Nun, ich kann mich jedenfalls noch an die Fassaden auf der Hauptstraße erinnern. Daß es aussah wie die Stadt der Gesetzlosen in einem alten Westernfilm, allerdings in psychedelischem Lila und Gelb. Nun, ehrlich gesagt, hatte ich geglaubt, daß dieses Lila und Gelb nur auf die Wirkung gewisser Stoffe auf mein Wahrnehmungsvermögen zurückzuführen waren. Bis ich eben dieses Foto in Ingers Wohnung sah.«
Als sie vom Essen zurückkamen, berief Wadkins eine neuerliche Besprechung im Sitzungszimmer ein. Yong Sue hatte seinem PC ein paar interessante Neuigkeiten entlockt.
»Ich bin alle unaufgeklärten Morde der letzten zehn Jahre in New South Wales durchgegangen. Dabei bin ich auf vier Morde gestoßen, die Gemeinsamkeiten mit unserem aufweisen. Die Leichen wurden an abgelegenen Stellen gefunden, zwei auf einer Müllkippe, eine an einem Waldrand an einer Landstraße und eine trieb im Darling River. Alle sind wahrscheinlich an anderen Stellen getötet und sexuell mißbraucht worden, bevor sie an diesen Orten abgeladen wurden. Und – und das ist das Entscheidende – alle sind erwürgt worden und haben die Würgemale von Fingern am Hals.«
Yong Sue strahlte.
Wadkins räusperte sich. »Nun, lassen Sie uns nichts überstürzen. Erwürgen ist im Zusammenhang mit Vergewaltigung nicht gerade ungewöhnlich. Wie sieht es mit dem geographischen Zusammenhang aus, Yong? Der Darling River ist verdammt weit draußen im Outback, über tausend Kilometer von Sydney entfernt.«
»No luck, Sir. Ich hab kein geographisches Muster erkennen können.«
Yong sah aus, als täte ihm das wirklich leid.
»Nun, vier erwürgte Leichen im ganzen Staat verteilt und das in zehn Jahren … das ist nicht gerade …«
»Es gibt noch etwas, Sir. Alle Frauen hatten helle Haare. Ich meine nicht einfach blond, sondern richtig helle, fast weiße Haare.«
Lebie pfiff tonlos. Dann wurde es still am Tisch.
Wadkins sah noch immer skeptisch aus. »Können Sie das nicht irgendwie statistisch auswerten, Yong? Die Signifikanz berechnen und diese Sachen, um herauszufinden, ob die Wahrscheinlichkeit sich in einem vernünftigen Rahmen bewegt, bevor wir hier schlafende Hunde wecken? Sicherheitshalber sollten Sie vielleicht ganz Australien untersuchen. Und überprüfen Sie auch die unaufgeklärten Vergewaltigungen, vielleicht finden wir da etwas.«
»Das kann etwas dauern. Aber ich kann es versuchen, Sir.« Yong lächelte wieder.
»Okay, Kensington und Holy, warum sind Sie noch nicht auf dem Weg nach Nimbin?«
»Wir fahren morgen früh, Sir«, sagte Andrew. »Es gibt eine aktuelle Vergewaltigungssache in Lithgow, die ich mir zuerst einmal anschauen möchte. Ich hab das Gefühl, daß es da eine Verbindung geben könnte. Wir waren gerade auf dem Weg dorthin.«
»Just a hunch, Sir.«
Wadkins seufzte.
»Tja, McCormack meint ja, Sie hätten so etwas wie einen sechsten Sinn …«
»Wissen Sie, Sir, wir Aborigines haben einen engeren Kontakt zu der Geisterwelt als ihr Bleichgesichter.«
»In meiner Abteilung baut die Polizeiarbeit nicht auf so etwas auf.«
Wadkins schüttelte den Kopf. »Aber seien Sie morgen früh in diesem Flugzeug, okay?«
Sie nahmen von Sydney aus die Autobahn. Lithgow ist eine Industriestadt mit zehn- bis zwölftausend Einwohnern, doch der Ort erinnerte Harry eher an ein mittelgroßes Dorf. Vor der Polizeistation prangte ein leuchtendes Blaulicht auf einem Pfosten.
Der örtliche Polizeichef empfing sie herzlich. Er war ein übergewichtiger, freundlicher Herr mit gleich mehreren Doppelkinnen und dem Namen Larsen. Larsen hatte entfernte Verwandte in Norwegen.
»Do you know any of the Larsens in Norway, mate?« fragte er.
»Well there are quite a few of them«, antwortete Harry.
»Ja, ich weiß, meine Großmutter hat erzählt, daß wir dort oben eine große Familie haben.«
»Sure do.«
Larsen erinnerte sich gut an den Vergewaltigungsfall.
»So etwas passiert hier in Lithgow zum Glück nicht so oft. Es war Anfang November. Sie wurde nach der Spätschicht auf dem Heimweg von der Firma, in der sie arbeitet, in einer Nebenstraße niedergeschlagen, in ein Auto gezerrt und weggeschafft. Er hat ihr mit einem großen Messer gedroht, fuhr mit ihr auf einen abseits gelegenen Waldweg am Fuße der Blue Mountains und vergewaltigte sie auf dem Rücksitz des Autos. Der Vergewaltiger hatte ihr die Hände an den Hals gelegt und begonnen sie zu würgen, als ein Auto hinter ihnen hupte. Der Fahrer hinter ihnen war auf dem Weg zu seiner Hütte und glaubte, vor sich auf dem verlassenen Waldweg ein Liebespaar überrascht zu haben, und wollte deshalb nicht aussteigen. Als sich der Vergewaltiger wieder auf den Vordersitz gesetzt hatte, um loszufahren, ist es der Frau gelungen, aus dem Auto zu flüchten und zu dem anderen Fahrzeug zu laufen. Der Vergewaltiger sah, daß er verloren hatte, gab Gas und verschwand.«