»Grieg war ein Genie. Nimm zum Beispiel den zweiten Satz der C-moll-Symphonie, da …«
»Sorry Andrew«, unterbrach ihn Harry. »Ich bin mit Zwei-Griff-Punk aufgewachsen und einer Symphonie nie näher gekommen als mit Gruppen wie Yes oder King Crimson. Ich höre keine Musik aus dem letzten Jahrhundert, okay? Alles vor 1980 ist für mich Steinzeit. Es gibt bei uns eine Band, die heißt Dum-Dum-Boys, und die …«
»Die C-moll-Symphonie wurde erst 1981 uraufgeführt«, sagte Andrew. »Dum-Dum-Boys, das ist aber ein wirklich prätentiöser Name.«
Harry gab es auf.
Evans White schaute sie mit halbgeschlossenen Augen an. Seine Haare hingen ihm in Strähnen ins Gesicht. Er kratzte sich im Schritt und rülpste demonstrativ. Er wirkte nicht sonderlich überrascht, sie zu sehen. Nicht, weil er sie erwartet hatte, sondern vermutlich weil er es gewohnt war, daß Menschen zu ihm kamen. Schließlich saß er auf dem besten LSD der ganzen Gegend, und Nimbin war ein kleiner Ort, in dem sich Gerüchte schnell verbreiteten. Harry rechnete damit, daß ein Mann wie White nicht in kleinen Mengen dealte und sicher nicht vor der eigenen Haustür, aber das hinderte die Menschen wohl kaum, auf seinem Hof zu erscheinen, um zwischendurch auch einmal ein größeres Geschäft zu machen.
»Ihr seid hier falsch. Versucht es in der Stadt«, sagte er und schloß die Tür mit dem Moskitonetz wieder.
»Wir kommen von der Polizei, Mr. White.« Andrew hielt seine Marke in die Höhe. »Wir würden gerne mit Ihnen sprechen.«
Evans drehte ihnen den Rücken zu.
»Heute nicht. Ich mag keine Bullen. Kommen Sie wieder, wenn Sie einen Haftbefehl oder einen Durchsuchungsbefehl oder so etwas haben, dann können wir sehen, was ich für Sie tun kann. Bis dann, gute Nacht.«
Er warf auch die innere Tür zu.
Harry lehnte sich an den Rahmen und rief: »Evans White! Hören Sie mich? Wir fragen uns, ob Sie das auf diesem Foto sind, Sir? Und falls das zutreffen sollte, ob Sie das blonde Mädchen kennen, das auf dem Foto neben Ihnen sitzt? Sie heißt Inger Holter, jetzt ist sie tot.«
Es war einen Moment lang still. Dann knirschten die Scharniere. Evans White blickte sie verstohlen an. Harry hielt das Bild an das Moskitonetz.
»Sie sah nicht mehr so gut aus, als die Polizei sie in Sydney fand, Mr. White.«
In der Küche lagen überall auf dem Tisch Zeitungen verstreut, das Spülbecken quoll vor Tellern und Gläsern über, und der Fußboden hatte sicher monatelang kein Seifenwasser mehr gesehen. Trotzdem sah Harry mit einem Blick, daß das Haus keine Anzeichen des Verfalls zeigte, es sah nicht aus wie das Haus eines Junkies auf dem absteigenden Ast. Weder gab es verschimmelte Essensreste, noch stank es nach Urin, und auch die Gardinen waren nicht vorgezogen. Außerdem hatte der Raum so etwas wie eine innere Ordnung, die Harry zeigte, daß Evans White sein Leben noch im Griff hatte.
Sie setzten sich an den Küchentisch, und Evans holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, das er sofort an den Mund setzte. Der Rülpser hallte an den Küchenwänden wider, gefolgt von einem zufriedenen Kichern.
»Erzählen Sie uns etwas von der Beziehung, die Sie zu Inger Holter hatten, Mr. White«, sagte Harry und wedelte mit der Hand den Rülpsgeruch weg.
»Inger war ein liebes, hübsches und ziemlich dummes Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hatte, mit mir gemeinsam glücklich zu werden.« Evans schaute an die Decke. Dann kicherte er wieder vergnügt.
»Ich glaube, das trifft die Sache ziemlich gut«, fügte er dann noch hinzu.
»Haben Sie einen Verdacht, wer der Täter sein könnte oder wie sie zu Tode gekommen sein kann?«
»Ja, es gibt ja auch in Nimbin Zeitungen, ich weiß also, daß sie erwürgt worden ist. Aber wer? Ein Würger, vermutlich.« Er warf den Kopf in den Nacken und grinste. Eine Haarlocke fiel ihm in die Stirn, die Zähne glitzerten in dem sonnengebräunten Gesicht, und die Lachfalten an den braunen Augen zogen sich bis zu den mit schweren Seeräuberringen behängten Ohren.
Andrew räusperte sich.
»Mr. White, eine Frau, die Sie gut kannten, ja zu der Sie sogar ein intimes Verhältnis hatten, ist ermordet worden. Was Sie persönlich fühlen oder nicht fühlen, geht uns nichts an. Aber wie Sie vielleicht verstehen, sind wir auf der Suche nach dem Mörder, und wenn Sie hier und jetzt nicht wenigstens versuchen, uns zu helfen, wird es um so wahrscheinlicher, daß wir Sie mit nach Sydney auf die Wache nehmen müssen.«
»Ich muß sowieso nach Sydney, wenn das also bedeutet, daß Sie den Flug zahlen, dann gerne.« Verächtlich zuckte er mit seinem Kopf.
Harry wußte nicht, was er glauben sollte. War Evans White so abgebrüht, wie er sich gab, oder drehte es sich eher um eine sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit.
»Wie Sie wollen, Mr. White«, sagte Andrew. »Flugticket, Kost und Logis, Rechtsanwalt und PR als Hauptverdächtiger des Mordfalls, alles gratis.«
»Big deal. Dann bin ich in 48 Stunden also wieder draußen.«
»Und dann bieten wir Ihnen eine Gratisüberwachung rund um die Uhr, einen Weckdienst umsonst, damit wir wissen, ob Sie nachts wirklich zu Hause sind und vielleicht sogar ein paar überraschende Razzien. Und wer weiß, was wir dann finden werden?«
Evans trank den Rest Bier, blieb aber sitzen und knibbelte an dem Bieretikett herum.
»Was wünschen die Herren zu erfahren?« sagte er mürrisch. »Alles, was ich weiß, ist, daß sie plötzlich eines Tages verschwunden war. Ich mußte nach Sydney, also hab ich versucht, sie anzurufen, aber sie war weder auf der Arbeit noch zu Hause, und als ich dann in die Stadt komme, lese ich in der Zeitung, daß sie ermordet aufgefunden worden ist. Zwei Tage lang bin ich wie ein Zombie durch die Straßen gelaufen. Ich meine, er-mor-det? Wie groß ist die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, sozusagen zu Tode gequetscht zu werden?«
»Nicht gerade groß. Sie haben also ein Alibi für den Zeitpunkt der Tat? Das ist gut …« sagte Andrew und schrieb etwas auf.
Evans zuckte zusammen.
»Alibi? Wie meinen Sie das? Ich bin, verdammt noch mal, doch wohl kein Verdächtiger? Oder wollen Sie mir erzählen, daß die Polizei nach über einer Woche noch immer keine richtige Spur hat?«
»Wir untersuchen alle Spuren, Mr. White. Können Sie mir sagen, wo Sie sich in den zwei Tagen aufgehalten haben, bevor Sie nach Sydney kamen?«
»Hier auf dem Hof, natürlich.«
»Alleine?«
»Nicht ganz.« Evans grinste und warf die leere Bierflasche über die Schulter nach hinten. Sie drehte sich langsam um die eigene Achse, beschrieb einen eleganten Bogen und verschwand dann fast lautlos in dem Mülleimer vor der Küchenbank. Harry nickte anerkennend.
»Darf ich fragen, mit wem Sie zusammen waren?«
»Sie tun das ja doch. Aber okay, ich habe nichts zu verbergen. Es war eine Frau, Angeline Hutchinson. Sie wohnt hier in der Stadt.«
Harry schrieb es auf.
»Eine Geliebte?« fragte Andrew.
»So in etwa«, erwiderte Evans.
»Was können Sie uns über Inger Holter erzählen? Wer war sie?«
»Äh, wir haben uns nicht so richtig lange gekannt, ich habe sie in Sydney getroffen, da in der Bar, wo sie gearbeitet hat. The Albury. Wir kamen ins Gespräch, und sie hat mir erzählt, daß sie für eine Reise nach Byron Bay sparte. Das ist nur ein paar Meilen von hier entfernt, deshalb habe ich ihr meine Telefonnummer in Nimbin gegeben. Ein paar Tage später hat sie mich angerufen und gefragt, ob sie eine Nacht hier auf dem Hof übernachten könne. Sie blieb über eine Woche. Danach haben wir uns immer in Sydney getroffen, wenn ich dort war. So zwei-, dreimal. Sie verstehen ja vielleicht, daß es da nicht ganz gereicht hat, zu einem alten Ehepaar zu werden. Außerdem fing sie schon an zu nerven.«
»Zu nerven?«
»Ja, sie hatte meinen kleinen Jungen, Tom-Tom, wirklich ins Herz geschlossen und träumte von einer Familie und einem Haus auf dem Land. Das paßte mir nicht so richtig, aber ich ließ sie gewähren.«
»Gewähren? Warum denn?«
Evans rutschte auf seinem Stuhl herum.