»Sie gehörte zu denen, die am Anfang noch eine große Klappe haben, die aber, kaum daß du sie ein wenig unter dem Kinn kraulst und sagst, daß du sie liebst, weich wie Butter werden. Die wissen dann kaum noch, wie sie dich noch weiter verwöhnen sollen.«
»Sie war also ein rücksichtsvolles, liebes Mädchen?« fragte Harry.
Evans fühlte sich bei der Richtung, die das Gespräch nahm, ganz offensichtlich nicht mehr wohl.
»Ja, wahrscheinlich schon. Aber ich kannte sie ja, wie gesagt, nicht so gut. Sie hatte ihre Familie in Norwegen so lange nicht gesehen, vielleicht fehlten ihr einfach … Menschen, jemand, der da war, nicht wahr? Aber was weiß ich denn? Sie war ganz einfach ein dummes, romantisches Mädchen. Sie hatte ganz bestimmt nichts Böses …«
Evans Stimme war plötzlich ein wenig brüchig, und es wurde still in der Küche. Entweder war er ein guter Schauspieler, oder er zeigte auf einmal doch noch menschliche Regungen, dachte Harry.
»Wenn Sie dieser Beziehung keine Zukunft gegeben haben, warum haben Sie sich dann nicht von ihr getrennt?«
»Ich war wohl schon auf dem Wege dahin. Stand irgendwie in der Tür und wollte Lebewohl sagen. Aber ich bin ja nicht mehr dazu gekommen, bevor sie verschwand. Just like that …« Er schnippte mit den Fingern.
Doch, seine Stimme klang jetzt eindeutig belegt, dachte Harry.
Evans schaute auf seine Hände.
»Was für eine Art, abzuhauen, nicht wahr?«
5
Eine Mutter, eine Riesenspinne und Bubbur
Sie fuhren über steile Bergstraßen. Ein Schild wies ihnen den Weg nach Crystal Castle.
»Die Frage ist – sagt Evans White die Wahrheit?« überlegte Harry.
Andrew wich einem entgegenkommenden Traktor aus.
»Laß mich ein bißchen von meiner Erfahrung mit dir teilen, Harry. Über zwanzig Jahre rede ich jetzt mit Menschen, die aus den verschiedensten Gründen die Wahrheit sagen oder lügen. Schuldige und Unschuldige, Mörder und Taschendiebe, Nervenbündel und abgebrühte Eisklötze, blauäugige Babygesichter, narbige Schurkenvisagen, Soziopathen, Psychopathen, Philanthropen …«
Andrew suchte nach weiteren Beispielen.
»Point taken, Andrew.«
»… Eingeborene und Weiße. Alle haben sie mir ihre Geschichte erzählt und gehofft, daß ihnen geglaubt wird. Und weißt du, was ich gelernt habe?«
»Daß es unmöglich ist, zu wissen, wer lügt und wer nicht?«
»Genau, Harry.« Andrew lebte jetzt richtig auf. »In der traditionellen Kriminalliteratur hat jeder Schnüffler, der etwas auf sich hält, einen untrüglichen Riecher dafür, wenn jemand lügt. Bullshit! Die menschliche Natur ist wie ein großer, undurchdringlicher Wald, in dem sich niemand richtig auskennt. Selbst eine Mutter hat keine Ahnung von den verborgensten Geheimnissen ihrer Kinder.«
Sie hielten auf einem Parkplatz vor einem großen grünen Garten mit Springbrunnen, Blumenrabatten und exotischen Bäumen an, durch den sich ein Kiesweg schlängelte. Hinter der Grünanlage lag ein großes Haus, bei dem es sich vermutlich um das Crystal Castle handelte, das ihnen der Sheriff in Nimbin auf der Karte gezeigt hatte. Das Kristallschloß.
Eine Glocke über der Tür meldete ihre Ankunft. Es war ganz offensichtlich ein beliebter Ort, denn der Laden war gut besucht. Eine kräftige Frau kam mit strahlendem Lächeln auf sie zu und hieß sie mit einem Enthusiasmus willkommen, der vermuten ließ, sie seien die ersten Menschen, die sie hier seit Monaten gesehen hatte.
»Sind Sie das erste Mal hier?« fragte sie. Als wenn ihre Kristallboutique eine süchtigmachende Angelegenheit sei, zu der die Menschen in regelmäßigen Abständen pilgerten, wenn sie erst einmal auf den Geschmack gekommen waren. Und nach allem, was sie wußten, konnte das ja genau zutreffen.
»Ich beneide Sie«, sagte die Frau, als sie bestätigten, daß sie das erste Mal an diesem Ort seien. »Es ist euch vorbehalten, Crystal Castle zum ersten Mal zu erleben!«
Die Frau, die ihnen am nächsten stand, quietschte vor Freude.
»Gehen Sie durch diesen Gang dort. Rechterhand liegt unser vegetarisches Restaurant mit den wundersamsten Rezepten. Wenn Sie dort gewesen sind, gehen Sie anschließend nach links in den Kristall- und Mineralienraum hinein. That's where the real action is! Now go, go!«
Sie winkte ihnen hinterher. Nach einer solchen Einführung war es eine herbe Ernüchterung, festzustellen, daß das Restaurant im Grunde nichts anderes war als eine einfache Klitsche, in der Kaffee, Tee, Salate mit Yoghurt sowie Salatsandwiches angeboten wurden. Im sogenannten Kristall- und Mineralienraum standen eine Reihe glitzernder Kristalle, Buddhafiguren mit gekreuzten Beinen, blaue und grüne Quarze und Natursteine in einem avancierten Lichtspiel. In dem Raum lag ein leichter Rauchgeruch, und einschläfernde Panflötenmusik und das Geräusch von plätscherndem Wasser waren zu hören. Harry fand die Boutique allein schon schön genug, das ganze Arrangement aber war reichlich camp und kaum so, daß einem die Luft wegblieb. Das einzige, das einem wirklich den Atem verschlug, waren die Preise.
»Hähä«, lachte Andrew, nachdem er auf ein paar der Preisschilder geschaut hatte. »Die Gute ist genial!«
Er zeigte auf die Kunden im Laden. Die meisten waren mittleren Alters und schienen gutsituiert zu sein. »Die Flower-Power- Generation ist erwachsen geworden. Sie haben vernünftigte Jobs, ein vernünftiges Einkommen, aber ihre Herzen schlagen noch immer für den Astralplaneten.«
Sie gingen zum Ladentisch zurück. Die Frau strahlte noch immer. Sie ergriff Harrys Hand und drückte ihm einen blaugrünen Stein in die Handfläche.
»Du bist Steinbock, nicht wahr? Leg diesen Stein hier unter dein Kopfkissen. Er wird alle negative Energie aus dem Raum entfernen. Er kostet eigentlich 65 Dollar, aber ich bin wirklich der Meinung, daß du diesen Stein haben solltest, also sagen wir 50 Dollar.«
Sie drehte sich zu Andrew um.
»Und du mußt Löwe sein?«
»Äh, nein, gute Frau, ich bin Polizist.« Diskret hielt er seine Marke hoch.
Sie wurde blaß und schaute ihn entsetzt an.
»Wie schrecklich. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht.«
»Nicht, daß ich wüßte, Ma'am. Ich nehme an, Sie sind Margaret Dawson, frühere White? Wenn dem so ist, können wir vielleicht ein paar Worte mit Ihnen wechseln?«
Margaret Dawson hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und rief nach einem der Mädchen, das die Kasse übernahm. Dann geleitete sie Harry und Andrew in den Garten, wo sie sich an einen weißen Holztisch setzten. Zwischen zwei Bäumen war ein großes Netz gespannt. Harry hatte zuerst geglaubt, daß es sich um ein Fischernetz handelte, doch bei genauerem Hinsehen stellte es sich als ein gewaltiges Spinnennetz heraus.
»Es scheint Regen zu geben«, sagte sie und rieb sich die Hände.
Andrew räusperte sich. Sie biß sich auf die Unterlippe.
»Tut mir leid, Konstabel. Das macht mich nur so nervös.«
»Ist schon in Ordnung. Ein gewaltiges Netz haben Sie da.«
»Ach das, das ist das Netz von Billy, unserer Mäusespinne. Sie liegt sicher wieder irgendwo und schläft.«
Harry zog unwillkürlich die Beine an.
»Mäusespinne? Heißt das, daß sie … Mäuse frißt?« fragte er.
Andrew lächelte.
»Harry ist aus Norwegen. Dort ist man keine großen Spinnen gewöhnt.«
»Oh, da kann ich Sie trösten. Die großen sind selten die gefährlichen«, sagte Margaret Dawson. »Ganz im Gegenteil. Wir haben hier ein winzigkleines tödliches Tierchen, das redback heißt. Aber dem gefällt es in der Regel besser in den Städten, wo es sich sozusagen in der Menge verstecken kann. In dunklen Kellern und feuchten Ecken.«
»Hört sich fast an wie jemand, den ich kenne«, sagte Andrew. »Aber zurück zur Sache, Mrs. Dawson, es geht um Ihren Sohn.«
Jetzt wurde sie wirklich blaß.
»Evans?«
Andrew warf Harry einen Blick zu.
»Soweit wir wissen, hat er bislang noch nichts mit der Polizei zu tun gehabt, Mrs. Dawson«, begann Harry.