Am nächsten Tag kam Walla ans Feuer. Seine Augen glänzten, und er wirkte fast gutgelaunt, als er fragte, wer mitkommen wolle, um Gummi zu sammeln. ›Wir haben Gummi‹, gab man ihm, überrascht über seinen Humor, zur Antwort. ›Du kannst es von uns haben.‹ – ›Ich brauche frisches Gummi‹, sagte er. Er lachte über ihre verschreckten Gesichter und sagte: ›Kommt mit, dann zeige ich euch, wofür ich das Gummi brauche.‹ Neugierig folgten sie ihm, und nachdem sie genug Gummi gesammelt hatten, führte er sie zu dem Tal mit den großen Steinen. Dort baute er sich in dem höchsten Baum eine Plattform und bat die anderen, sich zum Talschluß zurückzuziehen. Er nahm seinen besten Freund mit auf den Baum, und von dort oben riefen sie Bubburs Namen, wobei das Echo durch das Tal grollte und die Sonne immer höher an den Himmel stieg.
Plötzlich war Bubbur da – ein riesiger braungelber Kopf schwang hin und her und schien nach der Herkunft der Rufe zu suchen. Um sie herum wimmelte es von kleinen gelbbraunen Schlangen, sicher aus den Eiern, die Moora gesehen hatte. Walla und sein Freund kneteten das Gummi zu großen Kugeln. Als Bubbur sie im Baum erblickte, öffnete sie ihren Rachen, zischelte mit der Zunge und streckte sich zu ihnen empor. Die Sonne stand jetzt ganz hoch am Himmel, und die Strahlen glitzerten in Bubburs weißrotem Rachen. Als sie versuchte anzugreifen, warf Walla die größte Kugel direkt in Bubburs geöffneten Rachen, und die Schlange biß instinktiv zu, so daß die Zähne tief im Gummi versanken.
Bubbur wand sich auf dem Boden herum, aber es gelang ihr nicht, das Gummi, das in ihrem Maul festsaß, wieder loszuwerden. Es gelang Walla und seinem Freund, damit auch alle kleineren Schlangen ungefährlich zu machen. Denn ihre Rachen waren versiegelt. Dann rief Walla die anderen Männer herbei, und diese zeigten keine Gnade. Alle Schlangen wurden getötet. Bubbur hatte schließlich die schönste Tochter des Stammes getötet, und Bubburs Nachkommen konnten eines Tages zu ebensolchen Riesen heranwachsen, wie ihre Mutter einer war. Seit diesem Tag ist die gefürchtete braungelbe Bubbur- Schlange in Australien sehr selten. Aber die Furcht der Menschen hat sie mit jedem Jahr, das verging, länger und dicker werden lassen.«
Andrew trank seinen Gin Tonic aus.
»Und die Moral von der Geschichte?« fragte Birgitta.
»Daß die Liebe ein größeres Mysterium ist als der Tod. Und daß man auf Schlangen aufpassen muß.«
Andrew bezahlte den Drink, gab Harry einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und ging.
MOORA
6
Ein Morgenrock, statistische Signifikanz und ein Aquarienfisch
Er schlug die Augen auf. Draußen vor dem Fenster, von wo aus ihm die Gardine müde zuwinkte, summte und brummte die erwachende Großstadt. Er blieb liegen, und sein Blick fiel auf eine Absurdität, die an der gegenüberliegenden Wand des großen Zimmers hing – ein Bild des schwedischen Königspaares. Die Königin mit ihrem ruhigen, sicheren Lächeln und der König mit einem Ausdruck, als bedrohe ihn jemand von hinten mit einem Messer. Harry begriff, wie er sich fühlen mußte – er selbst hatte sich in der Grundschule in der dritten Klasse einmal überreden lasen, den alten König in »König Drosselbart« zu spielen.
Von irgendwoher hörte er fließendes Wasser, und Harry drehte sich auf die andere Seite, um an ihrem Kopfkissen zu riechen. Der Arm einer Feuerqualle – oder war es ein langes rotes Haar? – lag auf dem Laken. Plötzlich fiel ihm eine Überschrift auf der Sportseite des Dagbladet ein: »Erland Johnsen, FC Moss – bekannt für seine roten Haare und seine weiten Pässe«.
Er versuchte herauszufinden, wie er sich fühlte. Er war so leicht. Wirklich leicht wie eine Feder. So leicht, daß er befürchtete, die flatternde Gardine könnte ihn aus dem Bett und durch das Fenster nach draußen wehen, so daß er schließlich über Sydney schwebend feststellen müßte, daß er keine Kleider am Leib hatte. Vielleicht war diese Leichtigkeit ja damit zu erklären, daß er sich im Laufe der Nacht so nachdrücklich von gewissen Körpersäften getrennt hatte, daß er alles in allem sicher einige Kilo abgenommen haben mußte.
»Harry Hole, Kriminalpolizei Oslo – bekannt für seine merkwürdigen Ideen und seine leeren Eier«, murmelte er.
»Wie bitte?« fragte eine Stimme auf Schwedisch.
Birgitta stand in einem ziemlich häßlichen Morgenrock und mit einem weißen Handtuch, das sie sich wie einen Turban um den Kopf geschlungen hatte, im Zimmer.
»Oh, guten Morgen, du Schöne, du Freie. Ich habe nur das Bild von König ›Will nicht‹ dort an der Wand betrachtet. Glaubst du, daß er lieber Bauer wäre? Er sieht so aus.«
Sie warf einen Blick auf das Bild.
»Es ist im Leben nicht allen vergönnt, am richtigen Platz zu landen. Wie ist das zum Beispiel mit dir, Schnüffler?«
Sie ließ sich neben ihm aufs Bett fallen.
»Eine gute Frage so früh am Morgen. Bevor ich antworte, verlange ich, daß du diesen Morgenrock ausziehst. Ich will ja nichts Schlechtes darüber sagen, aber so ganz spontan würde ich behaupten, er ist das Scheußlichste, was ich in den letzten hundert Jahren, alle Träume Inbegriffen, gesehen habe.«
Birgitta lachte.
»Ich nenne ihn den Liebestöter. Der kommt zum Einsatz, wenn großmäulige fremde Kerle zu aufdringlich werden.«
»Hast du mal versucht herauszufinden, ob es einen Namen für diese Farbe gibt? Vielleicht sitzt du da auf einer bislang noch unbekannten Nuance, einer neuen Entdeckung, einem weißen Fleck auf der Landkarte der Farben, irgendwo zwischen braun und grün?«
»Versuch nicht, von der Frage abzulenken, du norwegischer Komiker!« Sie schlug ihm mit dem Kissen auf den Kopf, aber nach einem kurzen Ringkampf lag sie unter ihm. Harry hielt ihre Hände fest, wobei er versuchte, den Gürtel des Morgenrocks mit den Zähnen aufzumachen. Birgitta begann zu schreien, als sie seine Absicht erkannte, bekam ein Knie frei und zog es resolut unter sein Kinn. Harry stöhnte und ließ sich zur Seite fallen. Blitzschnell kniete sie sich auf seine Arme.
»Antworte!«
»Okay, okay, ich geb auf. Doch, doch, ich habe meinen Platz im Leben gefunden. Ich bin der beste Schnüffler, den du finden kannst. Ja, ich fange lieber böse Buben, als auf dem Feld zu arbeiten – oder an Galaessen teilzunehmen und auf einem Balkon zu stehen und den Massen zuzuwinken. Und – ja, ich weiß, daß das pervers ist.«
Birgitta küßte ihn auf den Mund.
»Du hättest dir ruhig die Zähne putzen können«, sagte Harry mit beinahe zusammengekniffenen Lippen.
Als sie spontan den Kopf in den Nacken legte und lachte, erkannte Harry seine Chance. Blitzschnell hob er den Kopf, packte den Gürtel mit den Zähnen und zog daran. Der Morgenrock glitt zur Seite. Dann hob er ihre Knie an und schob sie über sich. Ihre Haut war warm und nach der Dusche noch voll dampfender Feuchtigkeit.
»Hilfe, Polizei!« rief sie und schlang ihre Beine um seinen Körper. Harry spürte, wie das Blut in seinem ganzen Körper pulsierte.
»Vergewaltigung«, flüsterte sie und biß ihm ins Ohr.
Anschließend lagen sie beide auf dem Bett und starrten an die Decke.
»Ich würde mir wünschen, daß …«, begann Birgitta.
»Was?«
»Ach, nichts.«
Sie standen auf und zogen sich an. Als Harry auf die Uhr schaute, wurde ihm klar, daß er es nicht mehr rechtzeitig zur morgendlichen Besprechung schaffen würde. Er stand an der Tür und hielt sie in den Armen.
»Ich glaube, ich weiß, was du dir wünschst«, sagte Harry. »Du wünschst dir, daß ich dir mehr von mir erzähle.«
Birgitta schmiegte ihren Kopf an seinen Hals. »Ich weiß, daß du das nicht gerne tust«, sagte sie, »ich habe nur das Gefühl, daß ich alles, was ich von dir weiß, aus dir herausquetschen mußte. Daß deine Mutter eine liebe und gute Frau war und halb Samin und daß sie vor sechs Jahren gestorben ist. Daß dein Vater Lehrer ist und deinen Beruf nicht mag, davon aber nie etwas sagt, und daß der Mensch, den du über alles in der Welt liebst, deine Schwester, geringfügig am Down- Syndrom leidet. Ich mag es, so etwas von dir zu wissen. Aber ich möchte, daß du das erzählst, weil du es erzählen willst.«