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»Wir werden hineingehen«, sagte Harry und bemerkte, daß er überdeutlich sprach. Als wenn auch mit den Ohren des Jungen etwas nicht stimmte.

»Wir sind … waren Kollegen von Andrew. Andrew ist tot.«

Er hielt Andrews ledernen Schlüsselbund hoch. Der Junge blickte einen Augenblick lang verwirrt auf die Schlüssel und schnappte dann nach Luft.

»Er ist ganz plötzlich heute nacht gestorben«, sagte Harry. Der Junge blieb mit hängenden Armen vor ihnen stehen, und seine Augen begannen langsam zu glänzen. Harry begriff, daß sich die beiden gut gekannt haben mußten. Er hatte erfahren, daß Andrew seit nunmehr fast zwanzig Jahren hier gewohnt hatte und mit einem Mal begriff er, daß der Junge vermutlich in dem großen Haus aufgewachsen war. Ohne es zu wollen, sah Harry sie vor sich – den kleinen Jungen und den großen schwarzen Mann, wie sie im Garten Fußball spielten oder wie der Kleine weinte und getröstet wurde und Geld kriegte, um schnell Eis und Bier zu holen. Vielleicht war er mit den halbseidenen Ratschlägen und den nicht immer ganz wahren Geschichten von dem Polizisten in dem Gartenhäuschen groß geworden, und später, wenn er erwachsen genug gewesen wäre, hätte er ihm erzählt, wie man mit den Mädchen umzugehen hat und man eine rechte Gerade schlägt, ohne die Deckung zu vernachlässigen.

»Übrigens, es stimmt nicht, wir waren mehr als Kollegen. Wir waren Freunde. Wir auch«, fügte Harry hinzu. »Ist es in Ordnung für dich, wenn wir hineingehen?«

Der Junge klapperte mit den Augenlidern, preßte den Mund zusammen und nickte.

Harry fluchte innerlich. Nimm dich zusammen, Hole, dachte er. Du fängst langsam an, dich wie eine Figur aus einer amerikanischen Seifenoper anzuhören.

Das erste, was ihm auffiel, als sie die kleine Junggesellenwohnung betraten, war die unglaubliche Sauberkeit und Ordnung. In der sparsam möblierten Stube lagen keine Zeitungen auf dem Tischchen vor dem Reisefernseher, und in der Küche wartete kein altes Geschirr auf den Abwasch. Im Flur standen die Schuhe und Stiefel in Reih und Glied und die Enden der Schnürsenkel lagen innen in den Schuhen. Die strenge Ordnung erinnerte ihn an etwas.

Das Bett im Schlafzimmer war untadelig mit weißen Laken bezogen, und die Bettdecke war so stramm an den Seiten unter der Matratze eingeschlagen, daß man sich auf akrobatische Weise in den Briefschlitz zwischen den Schichten klemmen mußte, um »unter die Decke« zu kommen. Harry hatte sich auch schon in seinem eigenen Hotelzimmer über dieses komische Deckenarrangement aufgeregt. Er warf einen Blick ins Bad. Auf dem Bord unter dem Spiegel standen Rasiermesser und Seife feinsäuberlich neben Rasierwasser, Zahncreme, Zahnbürste und Shampoo. Das war alles. Auch hier keine Extravaganz, dachte Harry – und plötzlich fiel ihm ein, an was ihn diese penible Ordnung erinnerte: an seine eigene Wohnung, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte.

Harrys neues Leben hatte praktisch dort seinen Ausgangspunkt genommen. Eine einfache Übung der Disziplin, die sich darauf begründete, daß alles seinen Platz hatte, auf dem Regal oder in der Schublade, und nach jedem Gebrauch wieder genau dorthin zurückgelegt werden mußte. Nicht einmal ein einfacher Kugelschreiber durfte an einem zufälligen Ort liegen, und auch keine durchgebrannte Sicherung auf dem Boden des Sicherungskastens. Von dem praktischen Aspekt einmal abgesehen, hatte das Ganze natürlich auch eine symbolische Bedeutung – richtig oder falsch, das Chaosniveau in seiner Wohnung war ein Gradmesser für den sonstigen Zustand seines Lebens.

Harry bat Lebie, die Schränke und Kommoden im Schlafzimmer durchzugehen und wartete damit, das Toilettenschränkchen neben dem Spiegel zu öffnen, bis er gegangen war. Auf dem obersten Brett lagen sie ordentlich übereinandergestapelt und schauten ihn wie eine Horde von Miniatur-Sprengköpfen an: ein paar Dutzend vakuumverpackter Einwegspritzen.

Andrew Kensington hätte natürlich zuckerkrank sein können und sich Insulinspritzen setzen müssen, doch Harry wußte es besser. Wenn sie das halbe Haus abgerissen hätten, wäre sicher der Rest der Aussteuer zum Vorschein gekommen: Fixerbesteck und Pulver, aber das war gar nicht nötig. Harry wußte, was er wissen mußte.

Dschingis Khan hatte nicht gelogen, als er sagte, Andrew sei Junkie. Harry hatte eigentlich auch nicht mehr daran gezweifelt, nachdem sie ihn in Ottos Wohnung gefunden hatten. In einem Klima, das größtenteils kurzärmelige Hemden und T-Shirts erfordert, kann ein Polizist nicht mit Unterarmen voller Einstiche herumrennen. Er muß sich die Spritzen an Stellen setzen, wo die Einstiche nicht so leicht zu sehen sind – zum Beispiel auf der Rückseite der Beine. Andrews Beine und Kniekehlen waren voll davon gewesen.

Andrew war Kunde des Typen mit der Rod-Stewart-Stimme, solange Dschingis Khan zurückdenken konnte. Er meinte, Andrew gehöre zu den Menschen, die Heroin nehmen und trotzdem jobmäßig und sozial ein annähernd normales Leben führen. »Das ist wirklich nicht so ungewöhnlich, wie man meint«, hatte Dschingis gesagt.

»Aber als Speedy über Umwege erfuhr, daß der Kerl ein Bulle war, wurde er total panisch und wollte ihn abknallen. Dachte wohl, er sei V-Mann oder so was, aber wir haben ihm das ausgeredet. Der Kerl war ja schon ewig einer von Speedys besten Kunden. Kein Feilschen, immer die Kohle klar, kein Rumgelaber, hielt sich an Absprachen und das alles. Ich kenne keinen Aborigine, der Dope so gut verkraftet. Ach Scheiße, ich kenne überhaupt keinen, der das so gut packt!«

Er hatte keine Ahnung, ob Andrew jemals mit Evans White gesprochen hatte.

»White hat hier unten nichts mit den Kunden zu schaffen, er ist Großhändler, sonst nichts. Aber manchmal dealt er ein bißchen in King's Cross auf der Straße, habe ich gehört. Ich hab keinen blassen Schimmer, wieso, Kohle hat er jedenfalls genug. Aber, ich glaube, er hat schon wieder aufgehört – hatte anscheinend irgendwie Probleme mit ein paar Huren.«

Dschingis hatte alles ganz frei erzählt. Offener als notwendig, um seine Haut zu retten. Ja, er schien fast Gefallen daran gefunden zu haben. Er mußte damit gerechnet haben, daß Harry wohl keine sonderlich große Gefahr war, jedenfalls solange, wie einer seiner Kollegen auf ihrer Kundenliste stand.

»Du kannst den Kerl von mir grüßen und ihm ausrichten, daß er jederzeit wieder willkommen ist. Wir sind nicht nachtragend«, hatte Dschingis zum Schluß mit einem breiten Grinsen gesagt. »Egal, wer sie sind, die kommen immer alle wieder zurück, alle!«

Harry ging ins Schlafzimmer, wo sich Lebie ohne großen Enthusiasmus durch Unterhosen und Papiere wühlte.

»Gibt es etwas Interessantes?« fragte Harry.

»Nein, nichts Besonderes. Und bei dir?«

»Nichts.«

Sie schauten sich an.

»Laß uns gehen«, sagte Harry.

Der Wachmann des St. George-Theaters saß im Pausenraum und erinnerte sich noch vom Vortag an Harry. Er sah beinahe erleichtert aus.

»E-e-endlich jemand, der nicht hierherkommt, um zu fragen und zu bohren, wie das alles aussah. D-d-den ganzen Tag schwärmen hier schon die Journalisten herum«, sagt er. »Plus diese Sp-p-puren-Leute von Ihnen. Aber die haben ja genug zu tun, d-d-die stören uns nicht.«

»Ja, die haben da drinnen wohl genug zu tun.«

»Uff, ja. Ich habe heute nacht kein Auge zugetan. Meine Frau mußte mir schließlich eine von ihren Schlaftabletten g-g-geben. So was sollte man möglichst nicht erleben. Aber Sie sind wohl an so was gewöhnt, Sie …«

»Na, das war wirklich etwas heftiger als normal.«

»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in diesen Raum werde gehen können.«

»Oh, Sie werden darüber hinwegkommen.«

»Ach, hören Sie mir zu. Ich kann wirklich nicht mehr vom Requisitenraum reden, ich sage nur noch ›der‹ Raum.« Der Wachmann schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das braucht sicher seine Zeit«, sagte Harry. »Glauben Sie mir, ich habe mit so etwas meine Erfahrungen.«