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»Ich weiß nicht, was ich meine, Sir

McCormack stand auf und begann seine Runde vor dem Fenster, die Harry mittlerweile kannte.

»Ich bin mein ganzes Leben Polizist gewesen, Holy, aber noch immer betrachte ich meine Kollegen und frage mich, was die Menschen dazu bringt, das zu tun, anderer Leute Kriege auszufechten. Was treibt sie an? Was sind das für Menschen, die bereit sind, so viele Leiden zu ertragen, nur damit anderen das zuteil wird, was sie als Gerechtigkeit betrachten? Das sind die Dummen, Holy. Wir. Wir sind mit einer Dummheit gesegnet, die so groß ist, daß wir tatsächlich glauben, etwas erreichen zu können.

Wir werden in der Luft zerfetzt, zerstört, und eines Tages springen wir ins Meer, aber bis dahin glauben wir in unserer grenzenlosen Naivität, daß wir von jemandem gebraucht werden. Und wenn wir uns dann doch eines Tages dieser Illusion bewußt werden, ist es bereits zu spät, denn wir sind Polizisten geworden, dann stehen wir bereits in den Schützengräben und können nicht mehr zurück. Wir können uns nur fragen, was zum Teufel geschehen ist, wann wir schlußendlich den großen Fehler gemacht haben. Wir sind dazu verurteilt, unser Leben lang do-gooders zu sein – und zu scheitern. Aber die Wahrheit ist glücklicherweise eine verdammt relative Sache. Und sie ist flexibel. Wir beugen und biegen sie so zurecht, daß sie in unserem Leben Platz findet. Jedenfalls ein Teil davon. Manchmal reicht es, einen Verbrecher festzunehmen, um ein bißchen Seelenfrieden zu bekommen. Aber jeder weiß doch, daß es nicht gerade gesund ist, sein ganzes Leben lang Ungeziefer auszurotten. Man bekommt sein eigenes Gift zu spüren.

Worum geht es also, Holy? Der Mann hat sein ganzes Leben lang in dem Flakturm gestanden, und jetzt ist er tot. Was soll man da noch sagen? Die Wahrheit ist relativ. Es ist für diejenigen, die es nicht erlebt haben, nicht so leicht zu begreifen, wie extreme Belastungen einen Menschen verändern können. Wir haben Gerichtspsychiater, die versuchen eine Grenzlinie zwischen den Kranken und den Kriminellen zu ziehen, und die biegen die Wahrheit so lange zurecht, daß sie in ihre theoretische Modellwelt paßt. Wir haben ein Rechtssystem, von dem wir im besten Fall hoffen können, daß es das eine oder andere subversive Element von den Straßen entfernt, und Journalisten, die sich gerne als Idealisten verstanden wissen, weil sie nach oben kommen, wenn sie berichten, wie andere die Spielregeln verletzen, und das Ganze für Gerechtigkeit. Aber die Wahrheit?

Die Wahrheit ist doch, daß niemand von der Wahrheit lebt und die Wahrheit deshalb niemanden interessiert. Die Wahrheit, die wir uns erschaffen, ist doch nur die Summe von all dem, was den Menschen zum eigenen Vorteil dient, und noch dazu abhängig davon, welche Macht sie innehaben.«

Er blickte Harry fest an.

»Wen also interessiert die Wahrheit über Andrew Kensington? Wem ist damit gedient, daß wir eine häßliche, verdrehte Wahrheit mit scharfen Ecken und Kanten erschaffen, die überall herausragen, weil sie nicht ins Bild passen wollen? Nicht dem Polizeipräsidenten, nicht den Politikern in der Stadtverwaltung. Nicht denen, die sich für die Rechte der Aborigines einsetzen. Nicht der Polizeigewerkschaft. Nicht unserer Botschaft. Niemandem. Oder?«

Harry hatte Lust, Inger Holters Angehörige zu erwähnen, aber er ließ es bleiben. McCormack blieb vor dem Porträt der jungen Königin Elisabeth II. stehen.

»Ich würde es vorziehen, wenn das, was Sie mir erzählt haben, unser Geheimnis bliebe, Holy. Sie begreifen sicher, daß es so am besten ist?«

Harry zupfte ein langes rotes Haar von seiner Hose.

»Ich habe mit dem Büro des Bürgermeisters gesprochen«, sagte McCormack. »Damit das alles nicht zu auffällig ist, geben wir dem Fall Inger Holter noch eine Weile Priorität. Wenn wir nichts mehr finden, werden sich die Menschen schon damit abfinden, daß der Clown das norwegische Mädchen getötet haben muß. Wer wiederum den Clown auf dem Gewissen hat, dürfte ein bißchen schwieriger zu erklären sein, aber vieles deutet ja daraufhin, daß es sich um ein crime passionel, ein Eifersuchtsdrama handelt, vielleicht ein heimlicher, betrogener Liebhaber, wer weiß? In solchen Fällen können die Menschen damit leben, wenn der Täter unerkannt bleibt. Natürlich wird nichts irgendwie bewiesen, aber die Indizien sind klar, und nach einer gewissen Zeit gerät der ganze Fall in Vergessenheit. Daß es das Machwerk eines Serienmörders sein könnte, war bloß eine mögliche Theorie, mit der die Polizei kurze Zeit gearbeitet, die sie dann aber verworfen hat.«

Harry machte Anstalten zu gehen. McCormack räusperte sich.

»Ich bin dabei, Ihr Zeugnis zu schreiben, Holy. Ich werde es der Polizeipräsidentin zustellen, wenn Sie abgereist sind. Sie fahren morgen, nicht wahr?«

Harry nickte kurz und ging.

Die milde Abendbrise linderte seine Kopfschmerzen nicht. Und auch die versöhnliche Dunkelheit ließ das Bild nicht freundlicher werden. Harry rannte ziellos durch die Straßen. Ein kleines Tier huschte über den Weg im Hyde Park. Zuerst dachte er, es handele sich um eine große Ratte, aber als er in seiner Nähe war, sah er, daß es ein kleines Tier mit dichtem Pelz war. Die Lichter der Lampen reflektierten in den Augen, die zu ihm hinaufschauten. Harry hatte so ein Tier noch nie gesehen, glaubte aber, daß es ein Opossum war. Der Nager schien sich nicht vor ihm zu fürchten, ganz im Gegenteil, er hob den Kopf und schnupperte neugierig, wobei er merkwürdige Geräusche von sich gab.

Harry hockte sich hin.

»Fragst du dich auch, was du eigentlich mitten in dieser Riesenstadt sollst?«

Das Tier neigte als Antwort den Kopf zur Seite.

»Was meinst du, sollen wir morgen nach Hause fahren? Du in deinen Wald und ich in den meinen?«

Der Nager trollte sich, er wollte sich nicht überreden lassen, irgendwohin zu fahren. Er hatte sein Heim hier in diesem Park, zwischen den Autos, den Menschen und den Mülleimern.

Draußen bei Woollomolo ging er an einer Bar vorbei. Die Botschaft hatte angerufen. Er hatte versprochen, zurückzurufen. Was dachte Birgitta? Sie hatte nicht so viel gesagt. Er hatte aber auch nicht sonderlich viel gefragt. Sie hatte ihm nichts von ihrem Geburtstag heute erzählt, vielleicht weil sie fürchtete, daß er sonst irgendeine Dummheit machte. Irgendwie über das Ziel hinausschoß. Ihr ein viel zu teures Geschenk kaufte oder Dinge sagte, die unnötig waren, nur weil es der letzte Abend war und er ganz hinten in seinem Kopf ein schlechtes Gewissen hatte, weil er abreiste. »Was soll das Ganze?« fragte sie sich vielleicht.

Wie Kristin, als sie aus England zurückkam.

Sie hatten sich auf der Terrasse des Frognercafes getroffen. Kristin hatte erzählt, daß sie zwei Monate lang hierbleiben würde. Sie war braungebrannt und fröhlich und lächelte ihr altes Lächeln über das Bierglas, und er wußte genau, was er zu tun und zu sagen hatte. Es war wie ein altes Lied auf dem Klavier zu spielen, das man geglaubt hatte, vergessen zu haben – der Kopf war leer, doch die Finger fanden sich zurecht. Sie hatten sich total vollaufen lassen, aber das war noch bevor es darum ging, sich zu betrinken, so daß sich Harry an alles erinnern konnte. Sie waren mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren, und Kristin hatte sie beide durch ihr Lächeln an der Schlange des Sardine's vorbeigeschleust. In der Nacht, verschwitzt vom Tanzen, hatten sie ein Taxi hinauf nach Frogner genommen, waren über den Zaun der Badeanstalt und dann auf den Sprungturm geklettert. Zehn Meter über dem menschenleeren Park hatten sie eine Flasche Wein getrunken, über die Stadt geschaut und sich gegenseitig erzählt, was sie werden wollten, und immer war es etwas anderes als beim letzten Mal. Dann hatten sie sich an den Händen gefaßt, Anlauf genommen und waren über die Kante in die Tiefe gesprungen. Während sie fielen, hörte er nur ihren Schrei, der in seinen Ohren wie ein wunderbar übersteuerter Brandalarm klang. Er hatte laut lachend am Rand des Beckens gelegen, als sie aus dem Wasser stieg und mit eng am Körper klebendem Kleid auf ihn zukam. Am nächsten Morgen waren sie eng umschlungen in seinem Bett aufgewacht, verschwitzt, verkatert und geil, und er hatte die Tür zum Balkon geöffnet und war mit einer auf und ab hüpfenden Erektion zurückgekommen, auf die sie sich geradewegs gestürzt hatte. Sie hatten sich besinnungslos gevögelt, klug und innig, und der Lärm der spielenden Kinder verstummte im Innenhof, als der Brandalarm erneut ertönte.