Erst später hatte sie diese unbegreifliche Frage gestellt:
»Was soll das Ganze?«
Was sollte das Ganze, wenn ja doch nichts aus ihrer Beziehung werden würde? Weil sie nach England zurück mußte, weil er so egoistisch war und sie so unterschiedlich waren, daß sie ja doch niemals heiraten, Kinder kriegen und ein Haus bauen würden. Weil es doch zu nichts führte.
»Sind nicht die letzten vierundzwanzig Stunden Grund genug?« hatte Harry gefragt. »Was, wenn sie morgen eine Geschwulst in deiner Brust feststellen? Was soll das Ganze dann? Wenn du mit deinem Haus dasitzt, deinen Kindern, einem blauen Auge und hoffst, daß dein Mann einschläft, bevor du zu Bett gehst, was soll das Ganze dann? Bist du wirklich sicher, daß du mit deinem meisterhaften Plan das Glück einfangen kannst?«
Sie hatte ihn unmoralisch genannt, als Hedonisten beschimpft und gesagt, es gebe im Leben mehr als nur Vögeln.
»Ich begreife ja, daß du all das da willst«, hatte er erwidert, »aber du brauchst genau das andere, um einen Schritt auf deinem Weg zu diesem rosa Glücks-Nirwana weiterzukommen! Wenn du im Altersheim hockst, wirst du die Farbe des Services, das du zur Hochzeit bekommen hast, vergessen haben, aber ich bin mir verdammt noch mal sicher, daß du dich an den Sprungturm erinnern wirst und daran, wie wir es anschließend am Beckenrand getrieben haben.«
Eigentlich sollte sie die Boheme sein, die Unkonventionelle, diejenige von ihnen beiden, die das Leben genoß, doch das letzte, was sie sagte, bevor sie durch seine Tür hinausmarschierte und sie schließlich zuknallte, war, daß er nichts verstehe und endlich erwachsen werden müsse.
»Was soll das Ganze?« schrie Harry, und ein Passant auf der Harmer Street drehte sich um.
Wußte es Birgitta auch nicht? Hatte sie Angst, daß die Gefühle zu stark werden könnten, weil er morgen fahren mußte? Zog sie deshalb die Telefongeburtstagsgesellschaft aus Schweden vor? Natürlich hätte er sie ganz konkret zur Rede stellen müssen, aber wie gesagt, was sollte das Ganze?
Harry spürte, wie müde er war und wußte, daß er nicht würde schlafen können. Er drehte um und ging zurück zu der Bar. An der Decke hingen Leuchtstoffröhren, in deren Verkleidung tote Insekten lagen, und an den Wänden standen Spielautomaten. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, wartete auf den Kellner und entschloß sich, nichts zu bestellen, wenn ihn niemand ansprach. Er wollte sich einfach nur hinsetzen.
Der Kellner kam und fragte nach seiner Bestellung, und Harry schaute lange auf die Getränkekarte, bevor er um eine Cola bat. Er hatte Birgitta gebeten, auf Andrews Beerdigung zu gehen. Sie hatte genickt und »natürlich« gesagt.
Im Fenster sah er sein doppeltes Spiegelbild, und er dachte, daß Andrew jetzt hier sein sollte, damit er den Fall mit jemandem diskutieren konnte. Wäre das jetzt das alte Familien-Spiel gewesen, hätten er und Vater jetzt ihre Einsätze gemacht und die Hintergrundinformationen gelesen, während Mutter, wieder einmal nichts begreifend, idiotische Fragen gestellt hätte. Aber es war kein Spiel, und es war Harry, der nichts begriffen hatte.
Hatte Andrew versucht, ihm mitzuteilen, daß Otto Rechtnagel Inger Holter ermordet hatte? Und wenn ja, warum? Gab es so etwas hysterisch Komisches wie verdrängte heterosexuelle Neigungen und ließen diese Serienmörder entstehen, die sich an blonden Mädchen rächten? Wie hatte es Harry nur geschafft, all das nicht zu begreifen, was Andrew ihm hatte begreiflich machen wollen? Die Einführung, die tiefgründigen Hinweise, die offensichtliche Lüge über den Augenzeugen in Nimbin, der White gesehen haben wollte – war das nicht alles zu dem Zweck gewesen, ihn von White abzubringen und endlich zu begreifen?
Andrew hatte selbst dafür gesorgt, diesen Fall zu übernehmen und mit einem Ausländer zusammenzuarbeiten, den er glaubte kontrollieren zu können. Aber warum hatte Andrew Otto Rechtnagel nicht selber aufgehalten? Welche Verbindung war zwischen diesen beiden gewesen und hatte dazu geführt, daß er ihn, Harry, als Mittelsmann brauchte? Waren Otto und Andrew ein Liebespaar gewesen? War Andrew der Grund für Ottos Liebeskummer gewesen? Und wenn ja, warum mußte er Otto gerade dann töten, als sie ihn hatten festnehmen wollen? Weil Andrew einen anderen Plan gehabt hatte, einen Plan, der Otto hätte außer Gefecht setzen sollen, ohne ihn, Andrew, als Geliebten zu entlarven? Daß es so aussah, als ob Harry Otto Rechtnagel verdächtigte, um dann eine rasche Festnahme zu arrangieren, bei der er, Andrew, Otto bei einem »Fluchtversuch« oder aus Notwehr hätte erschießen können. Irgend so etwas mußte dahinterstecken. Harry ließ es sich auf der Zunge zergehen, aber es schmeckte fad. Wenn das stimmte, dann war Otto schon die ganze Zeit zum Tode verurteilt gewesen. Aber weil Andrew im Krankenhaus lag, als sie das Rätsel lösten, war alles für den ursprünglichen Plan viel zu schnell gegangen, so daß er sich nicht mehr durchführen ließ. »Gib mir zwei Tage«, hatte er gesagt.
Harry wies eine offensichtlich angetrunkene Frau ab, die sich an seinen Tisch setzen wollte.
Aber warum mußte er sich nach dem Mord selbst das Leben nehmen, Andrew wäre ja unentdeckt geblieben? Oder vielleicht nicht? Der Beleuchter hatte ihn ja gesehen, Harry wußte von Andrews Freundschaft mit Otto, und ein Alibi für den Tatzeitpunkt gab es wohl auch nicht. Tja, es schien wirklich Zeit für die Hintergrundinformationen zu sein. Zum Teufel, nein!
Harry konnte sich mit Mühe und Not vorstellen, daß Andrew vielleicht geplant haben konnte, Otto bei einer mißglückten Festnahme zu erschießen. Eine Verhaftung, bei der Otto überlebt hätte, hätte unweigerlich zu einem langwierigen Verfahren mit dem entsprechenden Medienrummel geführt. Andrew hätte riskiert, daß alles ans Licht gekommen wäre. Zeitungsüberschriften wie »Schwarzer Kommissar war der Ex-Geliebte des Serienmörders«, gewürzt mit einem großen Foto, hätten sein Leben für immer verändert. Außerdem konnte es sein, daß Andrew von Schuldgefühlen angetrieben worden war, daß er sich persönlich dafür verantwortlich fühlte, Otto nicht aufgehalten zu haben und ihm dafür eine Strafe auferlegte, zu der ihn ein australisches Gericht nicht verurteilen konnte – den Tod.
Die Gelegenheit, eine fiktive Schießerei ohne Zeugen heraufzubeschwören, war absolut gegeben, viel schwieriger war es aber gewesen, unbemerkt einen richtigen Mord zu begehen.
Harrys Magen zog sich zusammen.
Andrew hatte alle nur erdenklichen Möglichkeiten gehabt, Otto zu erledigen, bevor sich Harry und die anderen für ihn zu interessieren begannen. Und wie paßte es zusammen, daß ein Mann in einer Stadt, in der man als Hetero so lange als Abweichler betrachtet wurde, bis das Gegenteil bewiesen war, seinen Ex-Geliebten zerstückelte, um seine sexuelle Neigung zu verbergen? Und warum hatte er sich selbst danach getötet?
Harrys pochende Kopfschmerzen hatten sich langsam, aber sicher verschlimmert, und jetzt fühlte es sich so an, als benutze jemand seinen Kopf als Amboß. In dem Funkenregen hinter seinen Augen versuchte er, an einem Gedanken festzuhalten, aber immer wieder kamen neue, die den alten verdrängten. Vielleicht hatte McCormack recht – vielleicht war es einfach nur ein heißer Tag für eine malträtierte Seele. Harry vermochte nicht an die Alternative zu denken – daß es noch mehr gab. Daß Andrew Kensington noch mehr zu verbergen hatte, daß er vor mehr davonrannte als vor der Bloßstellung, hin und wieder auch Männerbeine zu mögen.
Ein Schatten fiel auf ihn, und er blickte hoch. Der Kopf des Kellners verdeckte das Licht, und in der Silhouette glaubte Harry, Andrews blauschwarze Zunge heraushängen zu sehen.