»Noch einen Wunsch, Sir?«
»Ich habe gesehen, daß Sie hier einen Drink haben, der Black Snake heißt …«
»Jim Beam und Cola.«
Sein Magen zog und zerrte jetzt wie wild.
»Gut. Bringen Sie mir einen doppelten Black Snake ohne Cola.«
Harry hatte sich verlaufen. Vor ihm lagen Treppen, hinter ihm Wasser und noch mehr Treppen. Das Chaosniveau stieg an, die Masten dort draußen in der Bucht schwangen hin und her, und er hatte keine Ahnung, wie er hier bei all diesen Treppen gelandet war. Er entschloß sich, nach oben zu gehen. »Immer nach oben«, pflegte Vater zu sagen.
Es ging nicht ganz ohne Probleme, aber mit Hilfe der Hauswände kämpfte er sich nach oben. Auf einem Schild stand Challis Avenue, aber das sagte ihm nichts, also ging er weiter geradeaus. Er versuchte, auf die Uhr zu schauen, konnte sie aber nicht finden. Es war dunkel, und die Straßen waren beinahe leer, so daß Harry annahm, es sei spät. Als er schließlich wieder zu einer Treppe kam, bog er nach rechts in die Macleay Street ab. Er wollte keine weiteren Stufen mehr bezwingen müssen. Er mußte bereits eine ganze Weile gegangen sein, denn seine Fußsohlen brannten. Oder war er gelaufen? Ein Riß in der Hose an seinem linken Knie verriet etwas von einem möglichen Sturz.
Er ging an ein paar Bars und Restaurants vorbei, aber alle waren geschlossen. Auch wenn es spät war, mußte es doch in einer Millionenstadt wie Sydney noch irgendwo möglich sein, einen Drink zu bekommen? Er lief auf die Straße und winkte einem gelben Taxi zu, dessen Schild auf dem Dach leuchtete. Der Wagen bremste, entschied sich dann aber doch anders und beschleunigte wieder.
Scheiße, sehe ich so schlimm aus, dachte Harry und kicherte.
Weiter oben in der Straße begegneten ihm immer mehr Menschen, er nahm das anziehende Rauschen von Stimmen, Autos und Musik wahr, und als er um die nächste Ecke bog, wußte er plötzlich wieder, wo er war. Vor ihm lagen King's Cross und die Darlinghurst Road mit ihrem Lärm und den blinkenden Lichtern. Jetzt hatte er wieder alle Möglichkeiten. In der ersten Bar verwehrte man ihm den Eintritt, aber in einer kleinen chinesischen Bude servierte man ihm Whiskey in einem großen Plastikbecher. Es war voll und eng dort drinnen. Die Spielautomaten an den Wänden machten einen unerträglichen Lärm. So ging er wieder auf die Straße hinaus, nachdem er den Inhalt des Bechers hinuntergekippt hatte. Er hielt sich an einem Pfosten fest, schaute den vorbeifahrenden Autos nach und versuchte, die aufkommende Erinnerung loszuwerden, daß er sich früher am Abend irgendwo in einer anderen Bar übergeben hatte.
Während er so dastand, spürte er, daß ihm jemand auf den Rücken tippte. Er drehte sich um und sah einen großen roten Mund und dann, als er sich öffnete, daß diesem Mund ein Eckzahn fehlte.
»Ich habe das mit Andrew gehört. Es tut mir leid«, sagte der Mund. Dann kaute er weiter auf seinem Kaugummi. Er gehörte Sandra.
Harry versuchte, etwas zu sagen, aber seine Aussprache mußte sehr schlecht gewesen sein, denn Sandra schaute ihn nur verständnislos an.
»Hast du Zeit?« fragte er sie schließlich.
Sandra lachte. »Yes, but I don't think you're up to it.«
»Ist das denn eine Voraussetzung?« stammelte Harry mit viel Mühe.
Sandra schaute sich um. Harry glaubte, dort im Schatten den Schimmer eines glatten Anzugs gesehen zu haben. Teddy Mongabi war sicher nicht weit.
»Hör mal, ich bin jetzt bei der Arbeit. Vielleicht solltest du nach Hause gehen und dich ausschlafen, wir können morgen miteinander reden.«
»Ich kann dich bezahlen«, sagte Harry und begann, sein Portemonnaie herauszuzerren.
»Pack das weg!« zischte Sandra und drückte die Geldbörse wieder zurück in die Tasche. »Ich komme mit, und du gibst mir ein bißchen Geld, aber nicht hier, verstanden?«
»Laß uns in mein Hotel gehen, das ist hier gleich um die Ecke, das Crescent«, sagte Harry.
Sandra zuckte mit den Schultern. »Whatever!«
Auf dem Weg zum Hotel kaufte Harry noch in einem Getränkemarkt zwei Flaschen Jim Beam.
Der Nachtportier des Crescent musterte Sandra von Kopf bis Fuß, als sie an der Rezeption vorbeigingen. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, aber Harry kam ihm zuvor.
»Haben Sie noch nie eine Under-Cover-Agentin gesehen?«
Der Nachtportier, ein junger Asiate in feinem Anzug, lächelte unsicher.
»Also, vergessen Sie, daß Sie sie gesehen haben und geben sie mir meinen Zimmerschlüssel! Wir haben noch zu arbeiten.«
Harry zweifelte daran, daß der Portier ihm seine gelallten Ausflüchte abnahm, doch er bekam ohne weitere Proteste den Schlüssel.
Im Zimmer öffnete Harry die Minibar und nahm alle alkoholhaltigen Getränke heraus.
»Die nehm ich«, sagte Harry und nahm eine Miniaturflasche Jim Beam. »Den Rest kannst du haben.«
»Du scheinst ja wirklich ein großer Freund von Whiskey zu sein«, sagte Sandra und öffnete eine Dose Bier. Harry schaute sie etwas perplex an.
»Darf ich?« fragte er.
»Die meisten mögen ja alle möglichen Sachen. Allein schon wegen der Variation, nicht wahr?«
»Ach ja? Trinkst du?«
Sandra zögerte.
»Eigentlich nicht. Ich versuche damit aufzuhören. Ich bin auf Diät.«
»Eigentlich nicht«, wiederholte Harry, »du weißt also nicht, wovon du redest. Hast du Leaving Las Vegas gesehen mit Nicolas Cage?«
»Häh?«
»Vergiß es. Es ging um einen Alki, der sich vorgenommen hatte, sich zu Tode zu saufen. Daran konnte ich glauben. Das Problem war, daß der Typ alles Mögliche trank. Gin, Wodka, Whiskey, Bourbon, Brandy … die ganze Palette. Das ist okay, wenn man keine Alternative hat. Aber dieser Kerl stand in dem weitbesten Schnapsladen in Las Vegas, hatte Geld wie Heu und keine Vorlieben. Ich habe nicht einen einzigen Alki getroffen, dem es egal war, was er trank! Wenn du erst einmal deine Droge gefunden hast, dann bleibst du ihr treu, nicht wahr? Er wurde sogar für einen Oscar nominiert!«
Harry legte den Kopf in den Nacken, trank die Miniaturflasche leer und öffnete die Balkontür.
»Wie ging es weiter?« fragte Sandra.
»Er hat sich zu Tode gesoffen«, sagte Harry.
»Ich meine, hat er den Oscar gekriegt?«
»Nimm dir eine Flasche aus der Tüte und komm her. Ich möchte mit dir auf dem Balkon sitzen und über die Stadt schauen. Ich hatte gerade ein dejà vu.«
Sandra nahm zwei Gläser und die Flasche und setzte sich, den Rücken an der Wand angelehnt, neben Harry.
»Laß uns für einen Augenblick vergessen, was der Teufel bei lebendigem Leib gemacht hat. Laß uns auf Andrew Kensington anstoßen.« Harry füllte die Gläser. Sie tranken schweigend. Harry begann zu lachen.
»Nimm, zum Beispiel, den Typ von ›The Band‹, Richard Manuel. Er hatte Riesenprobleme, nicht nur mit dem Trinken, sondern mit dem … tja, ganzen Leben. Zum Schluß konnte er nicht mehr und erhängte sich in einem Hotelzimmer. Daheim in seinem Haus fand man zweitausend Flaschen, alle die gleiche Marke – Grand Manier. Sonst nichts. Verstehst du? Scheiß Apfelsinenlikör. Das war ein Mann, der seinen Stoff gefunden hatte. Nicolas Cage – hah! Das ist eine merkwürdige Welt, in der wir leben!«
Er schlug mit der Hand in Richtung der Sterne über Sydney, und sie tranken weiter. Harry begannen die Augen zuzufallen, als Sandra eine Hand an seine Wange legte.
»Hör mal, Harry, ich muß wieder an die Arbeit. Ich glaube, du bist reif fürs Bett.«
»Was kostet eine ganze Nacht?« Harry schenkte sich nach.
»Ich glaube nicht …!«
»Bleib hier. Wir trinken aus, und dann treiben wir es. Ich verspreche dir, daß ich ganz schnell komme!« Harry kicherte.
»Nein, Harry, ich gehe jetzt.« Sandra stand auf und blieb mit verschränkten Armen stehen. Harry rappelte sich auf, verlor aber das Gleichgewicht und taumelte zwei Schritte auf das Balkongeländer zu, bevor Sandra ihn zu fassen bekam. Er schlang seine Arme um ihre dünnen Schultern, lehnte sich schwer auf sie und flüsterte: