»Die Ludwig XVI.-Nummer? Ungewöhnlich? Ganz im Gegenteil. Das ist ein alter Klassiker. Er wurde zum ersten Mal von der Clownsfamilie Jandaschewsky in Szene gesetzt, und das war gerade einmal zwei Wochen nach der wirklichen Hinrichtung im Januar 1793. Die Menschen liebten es. Öffentliche Hinrichtungen waren schon immer sehr beliebt. Wissen Sie, wie viele Wiederholungen des Kennedy-Attentats jedes Jahr von amerikanischen Fernsehsendern ausgestrahlt werden?«
Harry schüttelte den Kopf.
Otto schaute nachdenklich an die Decke.
»Sehr viele.«
»Otto fühlt sich als Nachkomme des großen Jandy Jandaschewsky«, erklärte Andrew.
»Is that so?« Berühmte Clowns waren nicht gerade Harrys Fachgebiet.
»Ich glaube, dein Freund kennt sich da nicht sonderlich aus, Tuka. Die Jandaschewsky-Familie war eine herumreisende Truppe von musizierenden Clowns, die um die Jahrhundertwende nach Australien kamen und sich hier niederließen. Sie gaben Zirkusvorstellungen bis 1971, als Jandy starb. Ich habe Jandy das erste Mal gesehen, als ich sechs Jahre alt war. Von da an wußte ich, was ich einmal werden wollte. Und das bin ich jetzt.«
Otto warf ihm durch die angetrocknete Schminke ein trauriges Clownslächeln zu.
»Woher kennt ihr beiden euch?« fragte Harry. Otto und Andrew warfen sich schnelle Blicke zu. Harry sah das Zucken im Mundwinkel und begriff, daß er ein schwieriges Terrain betreten hatte.
»Ich meine nur … ein Polizist und ein Clown … das ist ja nicht gerade …«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Andrew. »Man kann wohl sagen, daß wir zusammen aufwuchsen. Otto hätte wohl seine Mutter verkauft für ein Stück von meinem Arsch, aber ich habe schon in ganz jungen Jahren einen merkwürdigen Hang zu den Mädchen und diesen ekligen Hetero-Spielchen verspürt. Das muß was mit Vererbung und Milieu zu tun haben, oder was glaubst du, Otto?«
Andrew kicherte vor sich hin, wobei er der Ohrfeige auswich, die Otto ihm verpassen wollte.
»Du hast doch keinen Stil, kein Geld, und dein Arsch wird viel zu hoch gelobt«, beklagte sich Otto. Harry schaute zu den anderen in der Truppe hinüber, aber das Auftreten von Andrew und Otto schien sie völlig kalt zu lassen. Eine der kräftigen Trapezdamen zwinkerte ihm aufmunternd zu.
»Harry und ich werden heute abend ins Albury gehen, kommst du mit?«
»Du weißt doch ganz genau, daß ich da nicht mehr hingehe, Tuka!« sagte Otto wütend.
»Du solltest langsam darüber hinweg sein, Otto, das Leben geht weiter.«
»Das Leben von allen anderen, meinst du. Meines hört hier auf, genau hier. Wenn die Liebe stirbt, sterbe ich.« Otto legte seine Hand entsprechend theatralisch auf seine Stirn.
»Wie du willst.«
»Außerdem muß ich erst nach Hause und Waldorf füttern. Geht Ihr nur, vielleicht komme ich etwas später.«
»See you soon«, sagte Harry und legte seine Lippen gelehrig auf Ottos ausgestreckte Hand.
»Looking forward to it, Harry Handsome.«
Die Sonne war untergegangen, als sie zur Oxford Street in Paddington hinauffuhren und das Auto am Rand eines kleinen Parks abstellten. »Green Park« stand auf einem Schild, doch das Gras war bräunlich verbrannt, und das einzig Grüne war ein kleiner Pavillon inmitten des Parks. Ein Mann, ein Aborigine, lag unter einem Baum im Gras. Seine Kleider waren zerrissen, und er war so dreckig, daß er eher grau als schwarz wirkte. Als er Andrew sah, hob er die Hand wie zum Gruß, aber Andrew ignorierte ihn.
Im Albury war es so voll, daß sie sich durch die Glastüren hineinschieben mußten. Dort blieb Harry ein paar Sekunden stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Kundschaft bestand aus einer farbenfrohen Mischung der unterschiedlichsten Typen, junge Männer waren dabei klar in der Überzahclass="underline" Langhaarige in verwaschenen Jeans, glattgescheitelte Yuppies in Anzügen, Künstler mit Spitzbärtchen und Vernissage-Bläschen in den Gläsern, schicke, surf-blonde Jüngelchen mit gewinnendem Lächeln und Motorrad- Freaks – oder the bikies, wie Andrew sie nannte – in schwarzen Lederkombis. Mitten im Lokal, hinter der eigentlichen Bar, war eine Show in vollem Gang. Langbeinige, halbnackte Frauen in purpurroten, tiefausgeschnittenen Tops hüpften herum und bewegten sich mit breiten, rotbemalten Lippen zu Gloria Gaynors »I will survive«. Die Mädchen wechselten sich ab, so daß diejenigen, die an der Vorführung nicht teilnahmen, die Gäste bedienten und ganz offensichtlich mit ihnen flirteten.
Harry kämpfte sich zum Tresen vor und bestellte.
»Coming up right away, Blondie«, sagte die Bedienung im Römerhelm mit tiefer Baßstimme und lächelte schelmisch.
»Sag mal, sind wir die einzigen Normalen in dieser Stadt?« fragte Harry, als er mit einem Bier und einem Glas Saft zurückkam.
»Nach San Francisco gibt es nirgendwo auf der Welt so viele Schwule wie in Sydney«, erklärte Andrew. »Die australische Landbevölkerung ist vor allem für ihre Toleranz gegenüber sexuell Andersdenkenden bekannt. Und wenn sich das Gerücht, daß es hier die größte Auswahl gibt, erst einmal richtig verbreitet hat, ist es ja kein Wunder, daß alle Homo-Bauernsöhne Australiens nach Sydney wollen. Und übrigens nicht nur aus Australien, jeden Tag strömen neue Schwule aus der ganzen Welt in die Stadt.«
Sie gingen zu einer anderen Bar am hinteren Ende des Lokals, wo Andrew einem Mädchen hinter dem Tresen etwas zurief. Sie hatte ihnen den Rücken zugedreht und die rotesten Haare, die Harry jemals gesehen hatte. Sie reichten ihr bis zu den Gesäßtaschen ihrer knackengen Jeans, doch verbargen sie nicht den geschmeidig- biegsamen Rücken und die harmonisch runden Hüften. Sie drehte sich um und lächelte sie mit einer Reihe strahlendweißer Zähne an. Ihr Gesicht war schmal und hübsch mit zwei azurblauen Augen und einer Unzahl Sommersprossen. Unverzeihliche Verschwendung, wenn das keine Frau ist, dachte Harry.
»Erinnern Sie sich an mich?« rief Andrew durch den dröhnenden Lärm der Siebziger-Jahre-Musik. »Ich war hier und habe nach Inger gefragt. Können wir reden?«
Die Rothaarige wurde ernst. Sie nickte, sagte einem der anderen Mädchen Bescheid und wies ihnen den Weg zu einem kleinen Pausenraum hinter der Küche.
»Any news about what happened?« fragte sie, und schon bei diesen wenigen Worten war Harry klar, daß sie vermutlich besser Schwedisch als Englisch sprach.
»Ich habe einmal einen alten Mann getroffen«, sagte Harry auf norwegisch. Sie schaute ihn überrascht an.
»Er war Kapitän auf einem Amazonasdampfer. Nach drei Worten von ihm auf portugiesisch wußte ich, daß er Schwede war. Er wohnte dort seit dreißig Jahren. Und ich kann nicht ein einziges Wort Portugiesisch.«
Die Rothaarige war zuerst perplex, doch dann mußte sie lachen. Ein trillerndes, klares Lachen, das Harry an irgendeinen seltenen Waldvogel erinnerte.
»Ist das wirklich so offensichtlich?« fragte sie auf schwedisch. Sie hatte eine tiefe, ruhige Stimme und sprach das »r« etwas im Hals.
»Der Tonfall«, erwiderte Harry. »Euren Tonfall werdet ihr niemals los.«
»Do you guys know each other?« fragte Andrew sie skeptisch.
Harry blickte die Rothaarige an.
»Nope«, gab sie zur Antwort.
Ist das nicht schade, dachte Harry insgeheim.
Die Rothaarige hieß Birgitta Enquist, war seit vier Jahren in Australien und arbeitete seit einem Jahr im Albury.
»Wir haben natürlich während der Arbeit miteinander geredet, aber ich hatte eigentlich keinen persönlichen Kontakt zu Inger, sie war die meiste Zeit für sich. Wir von der Bar unternehmen abends manchmal etwas, und hin und wieder tauchte sie dann auf, aber nur selten. Bevor sie hier anfing, hatte sie sich gerade von einem Typ in Newtown getrennt. Das einzig Persönliche, das ich von ihr weiß, ist, daß ihr diese Beziehung mit der Zeit zu eng geworden ist. Sie brauchte wohl neue Impulse.«