»Was ist passiert?« fragte Joe.
»Eine Treppe, ich bin gefallen, is nix passiert, ich muß mich nur ein bißchen hinlegen.«
Joe war kein Arzt, aber ausgehend von den rasselnden Geräuschen beim Atmen glaubte er, daß ein oder zwei Rippen gebrochen sein mußten. Er suchte eine antiseptische Salbe und Pflaster heraus, flickte seinen Gast notdürftig zusammen und schob ihm schließlich einen Wattebausch in sein blutverschmiertes Nasenloch. Der Gast schüttelte nur den Kopf, als Joe ihm zu guter Letzt eine Schmerztablette geben wollte.
»Painkilling stuff in my room«, sagte er.
»Sie brauchen einen Arzt«, sagte Joe. »Ich werde …«
»Kein Arzt. In ein paar Stunden bin ich wieder in Ordnung.«
»Ihr Atem hört sich nicht gut an.«
»War immer so. Asthma. Lassen Sie mir einfach zwei Stunden Ruhe, dann verschwinde ich.«
Joe seufzte. Er wußte, daß er im Begriff war, Fehler Nummer zwei zu begehen.
»Vergessen Sie's«, sagte er. »Sie brauchen mehr als nur ein paar Stunden. Außerdem ist es ja nicht Ihr Fehler, daß die Treppen hier in Sydney so verdammt steil sind. Ich schau morgen früh mal nach Ihnen.«
Er half dem Gast auf sein Zimmer, brachte ihn ins Bett und zog ihm die Schuhe aus. Auf dem Tisch standen drei leere und zwei noch ungeöffnete Flaschen Jim Beam. Joe war Antialkoholiker, aber er war alt genug, um zu wissen, daß man mit Trinkern reden konnte. Er öffnete eine der Flaschen und stellte sie auf das Nachttischchen. Der Kerl würde es ohnehin schwer genug haben, wenn er aufwachte.
»Crystal Castle. Hallo.«
»Guten Tag, kann ich bitte mit Margaret Dawson sprechen?«
»Speaking.«
»Ich kann Ihrem Sohn helfen, wenn Sie mir sagen, daß er der Mörder von Inger Holter ist.«
»Was bitte? Mit wem spreche ich?«
»Mit einem Freund. Sie sollten mir vertrauen, Mrs. Dawson, denn sonst ist Ihr Sohn verloren. Verstehen Sie? Hat er Inger Holter getötet?«
»Was soll das? Machen Sie Witze? Wer ist diese Inger Holter?«
»Sie sind Evans Mutter, Mrs. Dawson. Auch Inger Holter hatte eine Mutter. Sie und ich sind die einzigen, die ihrem Sohn helfen können. Geben Sie zu, daß er Inger Holter getötet hat! Hören Sie auf mich!«
»Ich höre doch, daß Sie getrunken haben. Ich rufe jetzt die Polizei an.«
»Ach ja?«
»Ich lege jetzt auf.«
»Ach j… – Dumme Fotze!«
Alex Tomaros verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten, als Birgitta das Büro betrat.
»Setz dich hin, Birgitta.«
Sie setzte sich auf den Stuhl, der vor Tomaros' bescheidenem Schreibtisch stand, und Alex nutzte die Gelegenheit, sie einmal genauer anzuschauen. Sie sah müde aus, hatte schwarze Ringe unter den Augen, machte einen unglücklichen Eindruck und war noch blasser als sonst.
»Ich bin vor ein paar Tagen von einem Polizisten verhört worden, Birgitta. Einem gewissen Mr. Holy, einem Ausländer. Aus dem Gespräch ging hervor, daß er auch mit einer oder mehreren Angestellten gesprochen und dabei Erkenntnisse etwas … äh, indiskreter Natur gewonnen hat. Wir sind natürlich alle daran interessiert, daß der Mörder von Inger Holter gefunden wird, aber trotzdem möchte ich doch klarstellen, daß solche Aussagen in Zukunft als … äh, illoyal aufgefaßt werden könnten. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß wir es uns, so hart wie es in unserer Branche zugeht, nicht erlauben können, Leute zu beschäftigen, auf die wir uns nicht verlassen können.«
Birgitta sagte nichts.
»Heute vormittag hat ein Mann angerufen, und zufällig bin ich ans Telefon gegangen. Er hat zwar versucht, seine Stimme zu verstellen, aber ich habe ihn an seinem Akzent erkannt. Das war Mr. Holy, und er hat nach dir gefragt, Birgitta.«
Birgittas Kopf zuckte hoch.
»Harry? Heute?«
Alex nahm seine Brille ab.
»Du weißt, daß ich dich mag, Birgitta, und ich gebe gerne zu, daß ich dieses Leck ein bißchen persönlich nehme. Ich hatte gehofft, daß wir mit der Zeit richtig gute Freunde werden könnten. Sei also bitte nicht so dumm und mach das alles kaputt, ja?«
»Hat er aus Norwegen angerufen?«
»Schön wär's, aber die Leitung hat sich absolut nicht wie ein Ferngespräch angehört. Du weißt genau, daß ich nichts zu verbergen habe, Birgitta, jedenfalls nichts, was mit diesem Fall zu tun hat. Und darum geht es denen doch wohl, nicht wahr? Und es hilft Inger überhaupt nicht, wenn du über all das andere plapperst. Kann ich mich also auf dich verlassen, liebe Birgitta?«
»Was meinst du mit all dem anderen, Alex?«
Er sah überrascht aus.
»Ich dachte, Inger hätte dir davon erzählt – von der Fahrt.«
»Welcher Fahrt?«
»Nach der Arbeit. Ich habe Ingers Schäkern als sehr aufmunternd empfunden, und die Dinge haben sich dann ein wenig … äh … verselbständigt. Ich sollte sie ja nur nach Hause fahren und wollte ihr wirklich keinen Schreck einjagen, aber sie hat meinen kleinen Spaß wohl ein bißchen zu wörtlich genommen, fürchte ich.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Alex, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will. Hat Harry etwas davon gesagt, wo er zur Zeit ist? Ruft er wieder an?«
»He, he, warte mal. Du bist per du mit dem Typ und kriegst schon rote Bäckchen, wenn ich bloß seinen Nachnamen erwähne? Was geht hier eigentlich vor? Ist da womöglich was zwischen euch?«
Verzweifelt knetete Birgitta ihre Hände ineinander.
Er beugte sich über den Schreibtisch und streckte einen Arm aus, um ihr mit seiner Hand über die Haare zu streicheln, doch sie schlug seinen Arm irritiert zur Seite.
»Laß das, Alex! Du bist ein Trottel, und das habe ich dir früher schon einmal gesagt. Sei das nächste Mal, wenn er anruft, bitte ein bißchen weniger trottelig und frag, wo ich ihn erreichen kann, okay?« Sie stand auf und stampfte aus dem Büro.
Speedy traute kaum seinen eigenen Augen, als er das Cricket betrat. Borroughs zuckte hinter dem Tresen mit den Schultern.
»Er sitzt da schon seit zwei Stunden«, sagte er, »der ist wirklich voll.«
Auf ihrem Stammplatz in der hintersten Ecke der Kneipe saß der Mann, der wenigstens indirekt dafür verantwortlich war, daß zwei von Speedys Kollegen im Krankenhaus gelandet waren. Speedy überprüfte, ob er seine neue HK.45 ACP im Beingurt hatte, und ging zu dem Tisch hinüber. Der Kopf des Kerls war mit dem Kinn auf die Brust gesackt, und er schien zu schlafen. Vor ihm auf dem Tisch stand eine halbleere Whiskeyflasche.
»Hallo«, rief Speedy.
Der Kerl hob langsam den Kopf und grinste ihn etwas schwachsinnig an.
»Ich habe auf dich gewartet«, nuschelte er.
»Du sitzt am falschen Tisch«, sagte Speedy und blieb stehen. Er hatte einen arbeitsreichen Abend vor sich und konnte es sich nicht erlauben, durch diesen Idioten Zeit zu verlieren. Jederzeit konnte ein Kunde auftauchen.
»Ich will, daß du mir erst einmal etwas erzählst«, sagte der Kerl.
»Warum sollte ich das tun?« Speedy spürte, wie sich die Pistole an sein Bein schmiegte.
»Weil du hier deine Geschäfte machst und weil du gerade erst durch diese Tür dort gekommen bist und in diesem Moment des Tages am verletzbarsten bist, weil du die Waren direkt bei dir trägst und du nicht willst, daß ich dich vor all diesen Zeugen hier durchsuche. Bleib stehen.«
Erst jetzt erblickte Speedy die Mündung der High-Power-Pistole, die der Mann auf ihn gerichtet hielt.
»Was willst du wissen?«